Von Matthäus bis Matilda: Wie unsichtbare Effekte unser Lernen beeinflussen

tl;dr: Lernen und Lehren sind voller unbewusster sozialer und kognitiver Effekte, die unsere Wahrnehmung, Entscheidungen und Interaktionen beeinflussen. Diese Effekte können Lernprozesse erleichtern, aber auch verzerren. In dieser Liste werden 28 solcher Effekte beschrieben – von bekannten Phänomenen wie dem Matthäus-Effekt bis zu weniger geläufigen, aber ebenso relevanten Einflüssen wie dem Proteus-Effekt oder dem Imposter-Syndrom. Wer sie kennt, kann bewusster mit ihnen umgehen und Verzerrungen im Bildungskontext reduzieren.

Beim Lehren und Lernen gibt es viele Mythen – von angeblichen Lerntypen bis zu der Annahme, dass Multitasking möglich oder gar sei – mit vielen habe ich mich in diesem Blog bereits beschäftigt. Doch jenseits solcher Fehlannahmen gibt es eine Vielzahl von kognitiven und sozialen Effekten, die uns unbewusst lenken, unsere Wahrnehmung steuern und unsere Entscheidungen damit beeinflussen. Diese Effekte können hilfreich sein, aber auch zu Verzerrungen (Bias) führen – etwa wenn Lehrkräfte aufgrund des Halo-Effekts Schüler:innen anders bewerten oder wenn sich Lernende durch den Pygmalion-Effekt selbst erfüllen, was andere von ihnen erwarten.

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Derartige Mechanismen zu kennen, kann dabei helfen, Lernen und Lehren reflektierter zu gestalten. In der folgenden Liste habe ich 28 zentrale Effekte zusammengetragen, die in Bildungskontexten eine Rolle spielen (können) – mit kurzen Erklärungen, praktischen Konsequenzen und Quellen für weiterführende Informationen. Diese Liste versteht sich als Work in Progress und ich bin für Ergänzungen dankbar. Mir hilft sie jedenfalls immer wieder dabei, mich selbst an der Nase zu nehmen, zu reflektieren und Entscheidungen zu überdenken bzw. Reaktionen einzuordnen.


1. Matthäus-Effekt

📖 „Wer hat, dem wird gegeben.“ Der Matthäus-Effekt beschreibt das Phänomen, dass Personen oder Gruppen mit anfänglichen Vorteilen (z. B. bessere schulische Leistungen oder sozioökonomische Ressourcen) überproportional von weiteren Bildungs- und Karrierechancen profitieren, während benachteiligte Gruppen weiter zurückfallen. Dies führt zu „divides“, wie dem digital divide oder dem socioecomic digital divide.

🎓 Konsequenz: Lehrkräfte und vor allem auch Schulleitungen, Bildungscluster und die Bildungspolitik allgemein sollten bewusst Förderprogramme entwickeln, die auch (z.B. finanziell) schwächeren Schüler:innen helfen, um eine zunehmende Bildungsungleichheit zu vermeiden.

📚 Quelle: Merton, R. K. (1968). The Matthew Effect in Science. Science, 159(3810), 56-63.


2. Halo-Effekt

📖 Der Halo-Effekt tritt auf, wenn eine einzelne positive Eigenschaft (z. B. ein freundliches Auftreten oder gutes Aussehen) unsere gesamte Wahrnehmung einer Person beeinflusst. In der Schule kann das bedeuten, dass eine leistungsstarke Schülerin auch als besonders engagiert oder intelligent eingeschätzt wird – selbst wenn dies nicht in allen Fächern zutrifft.

🎓 Konsequenz: Bewertungsprozesse sollten so objektiv wie möglich gestaltet werden, z. B. durch Anonymisierung oder klare Beurteilungskriterien, wie es in der Wissenschaft beispielsweise in (double) blind peer reviews der Fall ist.

📚 Quelle: Nisbett, R. E., & Wilson, T. D. (1977). The Halo Effect: Evidence for Unconscious Alteration of Judgments. Journal of Personality and Social Psychology, 35(4), 250-256.


3. Pygmalion-Effekt (Rosenthal-Effekt)

📖 Der Pygmalion-Effekt zeigt, dass hohe Erwartungen einer Lehrkraft dazu führen können, dass Schüler:innen tatsächlich bessere Leistungen erbringen. Dies geschieht durch subtile Verhaltensweisen, wie häufigeres Feedback oder positivere Interaktionen. Dies kann beispielsweise auch auf Einzelebene durch das Lesen von Namen führen, man denke an den Kevinismus.

🎓 Konsequenz: Lehrer:innen sollten hohe, aber realistische Erwartungen an alle Lernenden stellen, um deren Potenzial bestmöglich zu fördern.

📚 Quelle: Rosenthal, R., & Jacobson, L. (1974). ‚Pygmalion in the Classroom‘. Teacher Expectation and Pupils‘ Intellectual Development. In: Zick Rubin (ed.). Doing Unto Others, Eaglewood Cliffs, NJ: Prentice-Hall, 41-47.


4. Dunning-Kruger-Effekt

📖 Menschen mit geringer Kompetenz in einem Bereich neigen dazu, ihre Fähigkeiten zu überschätzen, während Expert:innen ihre Leistungen oft unterschätzen. Dies kann dazu führen, dass Schüler:innen mit wenig Wissen selbstbewusst auftreten, während wissensstärkere Schüler:innen an sich zweifeln.

🎓 Konsequenz: Lehrkräfte sollten Selbstreflexion und Metakognition fördern, um realistische Selbsteinschätzungen zu ermöglichen.

📚 Quelle: Kruger, J., & Dunning, D. (1999). Unskilled and unaware of it: How difficulties in recognizing one’s own incompetence lead to inflated self-assessments. Journal of Personality and Social Psychology, 77(6), 1121-1134.


5. IKEA-Effekt

📖 Menschen bewerten selbst geschaffene Dinge höher als fertige Lösungen. Ein selbstgeschriebener Text erscheint Schüler:innen oft wertvoller als ein Beispieltext, selbst wenn dieser objektiv besser wäre.

🎓 Konsequenz: Projektbasiertes Lernen und kreative Aufgaben können die Motivation steigern, was gerade in Zeiten von Künstlicher Intelligenz an Bedeutung zunimmt. Es geht um den Prozess und nicht das fertige Produkt, weshalb wir eine Prozess- statt einer Produktorientierung anstreben sollten.

📚 Quelle: Norton, M. I., Mochon, D., & Ariely, D. (2012). The IKEA effect: When labor leads to love. Journal of Consumer Psychology, 22(3), 453-460.


6. Zeigarnik-Effekt

📖 Unvollendete Aufgaben bleiben besser im Gedächtnis als abgeschlossene. Dieses Phänomen zeigt, dass Menschen sich an unterbrochene Handlungen oder nicht abgeschlossene Aufgaben stärker erinnern als an bereits erledigte.

🎓 Konsequenz: Lehrkräfte können das Lernen fördern, indem sie bewusst Aufgaben offenlassen oder mit Cliffhangern arbeiten, um das Interesse aufrechtzuerhalten. Dies sollte jedoch nicht zu einer kognitiven Überlastung führen, indem beispielsweise zu viele Tasks offengelassen werden. Man denke an die nie enden wollende To-Do-Liste, die zu Frustration führen kann.

📚 Quelle: Zeigarnik, B. (1927). Über das Behalten von erledigten und unerledigten Handlungen. Psychologische Forschung, 9(1), 1-85.


7. Spotlight-Effekt

📖 Menschen überschätzen, wie sehr andere sie beobachten und bewerten. Schüler:innen können das Gefühl haben, dass alle Mitschüler:innen sie genau beobachten, was zu Nervosität und Prüfungsangst führen kann. Der Mensch fühlt sich dabei ständig auf der Bühne, wie schon Erving Goffman in Wir alle spielen Theater formuliert hat (hier eine kompakte Zusammenfassung).

🎓 Konsequenz: Eine offene Fehlerkultur und bewusstes Feedback können helfen, den sozialen Druck im Klassenzimmer zu verringern.

📚 Quelle: Gilovich, T., Medvec, V. H., & Savitsky, K. (2000). The Spotlight Effect in Social Judgment: An Egocentric Bias in Estimates of the Salience of One’s Own Actions and Appearance. Journal of Personality and Social Psychology, 78(2), 211-222.


8. Self-Handicapping

📖 Menschen setzen sich selbst Hindernisse, um Misserfolge zu erklären. Beispielsweise lernen Schüler:innen absichtlich weniger vor einer Prüfung, um eine Ausrede für schlechte Leistungen zu haben. Eine Nähe zur Self-fulfilling Prophecy ist zu erkennen.

🎓 Konsequenz: Eine positive Fehlerkultur kann helfen, Misserfolge nicht als Bedrohung, sondern als Lernchance zu verstehen.

📚 Quelle: Jones, E. E., & Berglas, S. (1978). Control of Attributions about the Self through Self-Handicapping Strategies: The Appeal of Alcohol and the Role of Underachievement. Personality and Social Psychology Bulletin, 4(2), 200-206.


9. Kontrasteffekt

📖 Die Bewertung einer Sache hängt stark davon ab, womit sie verglichen wird. Eine mittelmäßige Präsentation kann herausragend erscheinen, wenn die vorherige sehr schlecht war. Dies kann dazu führen, dass das Lesen des ersten Tests oder eines ersten Textes die Korrekturen der weiteren beeinflusst.

🎓 Konsequenz: Klare Bewertungsmaßstäbe sollten sicherstellen, dass Leistungen unabhängig vom Vergleich mit anderen bewertet werden. Dabei sollten auch Nicht-Ziele klar formuliert werden.

📚 Quelle: Parducci, A. (1965). Category Judgment: A Range-Frequency Model. Psychological Review, 72(6), 407-418.


10. Status-quo-Bias

📖 Menschen bevorzugen den aktuellen Zustand und vermeiden Veränderungen, auch wenn Alternativen besser wären. Dies kann Innovationen im Unterricht und auch im Bildungsbereich allgemein behindern. Wer kennt sie nicht, die Killerphrase: „Das haben wir immer schon so gemacht…“

🎓 Konsequenz: Veränderungen sollten schrittweise eingeführt und mit positiven Erfahrungen verknüpft werden.

📚 Quelle: Samuelson, W., & Zeckhauser, R. (1988). Status quo bias in decision making. Journal of Risk and Uncertainty, 1(1), 7-59.


11. Mere-Exposure-Effekt

📖 Je häufiger wir etwas sehen oder hören, desto glaubwürdiger und sympathischer erscheint es uns. Dies trifft uns beim Korrigieren von Fehlern beispielsweise. Sehen wir im Sprachunterricht zum zehnten Mal eine alternative Schreibweise eines Wortes, stellen wir vielleicht unsere eigene Sprachkompetenz in Frage. Kann man das nicht vielleicht doch auch so sagen oder schreiben?

🎓 Konsequenz: Kritische Medienkompetenz schulen, um unreflektierte Meinungsbildung durch bloße Wiederholung zu vermeiden. Eine Liste mit falschen Freunden für das Korrigieren im Sprachunterricht erstellen.

📚 Quelle: Zajonc, R. B. (1968). Attitudinal Effects of Mere Exposure. Journal of Personality and Social Psychology, 9(2), 1-27.


12. Einstellungseffekt (Einstellungsträgheit)

📖 Menschen halten an gewohnten Problemlösungen fest, auch wenn bessere Alternativen existieren. Auch hier greift die Killerphrase: „Das haben wir immer schon so gemacht…“ Agile und innovative Lösungen werden nicht berücksichtigt.

🎓 Konsequenz: Unterrichtsmethoden sollten flexible Denkweisen und alternative Lösungsstrategien fördern. Ein Perspektivenwechsel kann hier helfen.

📚 Quelle: Luchins, A. S. (1942). Mechanization in problem solving: The effect of Einstellung. Psychological Monographs, 54(6), 1-95.


13. Rückschaufehler (Hindsight Bias)

📖 Nachträglich erscheint uns alles vorhersehbarer, als es tatsächlich war. Schüler:innen können nach Prüfungen denken, dass sie die Antworten ohnehin gewusst hätten. Man könnte hier auch vom Millionenshow-Effekt sprechen: Ohne Nervosität und Stress ist vieles möglich.

🎓 Konsequenz: Reflexionsübungen helfen, sich der Unsicherheiten und Lernprozesse bewusster zu werden.

📚 Quelle: Fischhoff, B. (1975). Hindsight ≠ foresight: The effect of outcome knowledge on judgment under uncertainty. Journal of Experimental Psychology: Human Perception and Performance, 1(3), 288-299.


14. Default-Effekt

📖 Menschen neigen dazu, die vorgegebene Option zu wählen, selbst wenn Alternativen existieren. Man denke an das Annehmen von Cookies oder von Privatsphäre-Einstellungen. Haben Sie sich schon mal gefragt, wieso auf neuen Smartphones die Fotos immer so schön sind? Vielleicht weil Künstliche Intelligenz und Schönheitsfilter neuerdings by default eingestellt sind?

🎓 Konsequenz: Schüler:innen sollten lernen, bewusst Entscheidungen zu treffen, anstatt einfach den Standard zu akzeptieren. Kritisches Denken erfordert jedoch Zeit, die nicht nur Schüler:innen sondern wir alle uns nur (mehr) selten nehmen.

📚 Quelle: Johnson, E. J., & Goldstein, D. (2003). Do Defaults Save Lives? Science, 302(5649), 1338-1339.


15. Framing-Effekt

📖 Die Art und Weise, wie eine Information präsentiert wird, beeinflusst unsere Wahrnehmung: in der Werbung, auf Social Media, in Zeitungen. Als Buchempfehlung hierzu Hans Roslins Factfulness. Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist – wie sich die negative Berichterstattung auf uns auswirkt (ebenso empfehlenswert die Daily Good News von WDR oder die Rubrik Gute Nachrichten vom Planeten der ARD Mediathek).

🎓 Konsequenz: Kritische Reflexion darüber, wie Informationen in Lehrbüchern oder Medien dargestellt werden ist deshalb unbedingt notwendig.

📚 Quelle: Tversky, A., & Kahneman, D. (1981). The Framing of Decisions and the Psychology of Choice. Science, 211(4481), 453-458.


16. Erwartungseffekt (Expectation Bias)

📖 Menschen neigen dazu, Informationen so zu interpretieren, dass sie ihre bestehenden Erwartungen bestätigen. Lehrer:innen können unbewusst Schüler:innen unterschiedlich bewerten, je nachdem, was sie von ihnen erwarten. Man denke hier an den Mythos, dass Mädchen schlechter in Mathematik sind und Burschen schlechter in Sprachen.

🎓 Konsequenz: Objektive Bewertungsverfahren und regelmäßige Reflexion über eigene Erwartungen helfen, Verzerrungen zu reduzieren. Ein anonymer Korrekturprozess kann hier auch schon mal die Augen öffnen…

📚 Quelle: Darley, J. M., & Gross, P. H. (1983). A hypothesis-confirming bias in labeling effects. Journal of Personality and Social Psychology, 44(1), 20-33.


17. Effekt der wachsenden Verpflichtung (Escalation of Commitment)

📖 Menschen halten an einmal getroffenen Entscheidungen fest, selbst wenn sich diese als nachteilig erweisen. Im Schulkontext könnte dies bedeuten, dass Lehrkräfte ineffektive Methoden oder traditionelle Schulbücher nicht aufgeben, weil sie bereits viel Zeit in sie investiert haben.

🎓 Konsequenz: Offenheit für neue pädagogische Ansätze und regelmäßige Evaluierung bestehender Methoden gilt es zu fördern.

📚 Quelle: Staw, B. M. (1976). Knee-deep in the big muddy: A study of escalating commitment to a chosen course of action. Organizational Behavior and Human Performance, 16(1), 27-44.


18. Primäreffekt (Primacy Effect)

📖 Die zuerst wahrgenommenen Informationen haben überproportional großen Einfluss auf unser Gesamturteil. Ein erster guter Eindruck eines Schülers oder einer Schülerin kann spätere Schwächen überdecken. Das funktioniert aber andersrum genauso. Namen, Aussehen und vielleicht ein fehlendes Grüßen können hier bereits Langzeiteffekte anlegen. Der erste Eindruck zählt schließlich, siehe hierzu auch den Halo-Effekt.

🎓 Konsequenz: Objektive Beurteilungskriterien und kontinuierliche Leistungsbewertungen helfen, Verzerrungen durch erste Eindrücke zu vermeiden.

📚 Quelle: Asch, S. E. (1946). Forming impressions of personality. Journal of Abnormal and Social Psychology, 41(3), 258-290.


19. Rezenzeffekt (Recency Effect)

📖 Die zuletzt präsentierten Informationen haben einen stärkeren Einfluss auf unsere Wahrnehmung als frühere Informationen. Bei Prüfungen erinnern sich Schüler:innen oft besser an den zuletzt gelernten Stoff. Der Rezenzeffekt steht in engem Zusammenhang mit dem Primäreffekt.

🎓 Konsequenz: Unterricht und Prüfungen sollten so gestaltet sein, dass wichtige Inhalte sowohl am Anfang als auch am Ende einer Einheit betont werden.

📚 Quelle: Murdock, B. B. (1962). The serial position effect of free recall. Journal of Experimental Psychology, 64(5), 482-488.


20. Soziale Erwünschtheit (Social Desirability Bias)

📖 Menschen tendieren dazu, sich so zu verhalten oder zu antworten, wie sie glauben, dass es sozial akzeptabel oder gewünscht ist (siehe auch Erving Goffmans Wir alle spielen Theater). Dies kann dazu führen, dass Schüler:innen ihre wahren Meinungen oder Wissenslücken verschweigen. In der Wissenschaft ist die soziale Erwünschtheit (bei Antworten in Interviews) eine äußerst wichtige Kategorie, die sich auch bei Feedbackprozessen zeigt.

🎓 Konsequenz: Anonyme Feedbackmöglichkeiten und eine offene, wertfreie Gesprächskultur schaffen, um ehrliche Rückmeldungen und Lernprozesse zu fördern.

📚 Quelle: Paulhus, D. L. (1984). Two-component models of socially desirable responding. Journal of Personality and Social Psychology, 46(3), 598-609.

21. Hawthorne-Effekt

📖 Der Hawthorne-Effekt beschreibt das Phänomen, dass Menschen ihr Verhalten ändern, wenn sie wissen, dass sie beobachtet werden. Ursprünglich wurde dies in Fabrikstudien entdeckt, wo Arbeiter produktiver arbeiteten, sobald sie bemerkten, dass sie Teil eines Experiments waren. Im schulischen Kontext kann dies bedeuten, dass Schüler:innen im Beisein einer Lehrkraft motivierter arbeiten oder sich stärker anstrengen. Diese kurzfristige Leistungssteigerung basiert jedoch auf der Aufmerksamkeit und verschwindet oft, wenn die Beobachtung endet.

🎓 Konsequenz: Lehrkräfte sollten sich bewusst sein, dass Beobachtungen allein nicht zu nachhaltigen Verbesserungen führen, sondern von echten Strukturveränderungen begleitet werden müssen.

📚 Quelle: Roethlisberger, F. J., & Dickson, W. J. (1961). Management and the Worker. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press.


22. Dr.-Fox-Effekt

📖 Der Dr.-Fox-Effekt zeigt, dass die Art und Weise, wie jemand Informationen präsentiert, einen stärkeren Einfluss auf die Wahrnehmung hat als der tatsächliche Informationsgehalt. In einem Experiment hielt ein Schauspieler mit fachspezifischem Jargon eine scheinbar akademische Vorlesung, obwohl der Inhalt größtenteils sinnfrei war. Dennoch bewerteten die Zuhörer:innen die Präsentation positiv. In der Lehre bedeutet das, dass rhetorische Fähigkeiten und Auftreten eine starke Rolle spielen, unabhängig vom Inhalt.

🎓 Konsequenz: Lehrkräfte sollten nicht nur auf ihre Präsentationsweise achten, sondern auch sicherstellen, dass ihre Inhalte wissenschaftlich fundiert bzw. aktuell und didaktisch sinnvoll sind. Eine Orientierung am TPACK-Modell kann hier helfen.

📚 Quelle: Naftulin, D. H., Ware, J. E., & Donnelly, F. A. (1973). The Doctor Fox Lecture: A Paradigm of Educational Seduction. Journal of Medical Education, 48(7), 630-635.


23. Imposter-Syndrom

📖 Das Imposter-Syndrom beschreibt das Phänomen, dass hochqualifizierte Personen systematisch ihre eigenen Fähigkeiten unterschätzen und glauben, ihren Erfolg nicht verdient zu haben. Sie führen Erfolge auf Glück oder äußere Umstände zurück, während sie Misserfolge als Beweis für ihre Inkompetenz sehen. Besonders Studierende oder junge Wissenschaftler:innen können davon betroffen sein. Vier goldene Regeln können dabei helfen, das Imposter-Syndrom zu vermeiden.

🎓 Konsequenz: Lehrkräfte sollten eine unterstützende Umgebung schaffen, in der Fehler als Teil des Lernprozesses angesehen werden, um das Selbstbewusstsein der Schüler:innen zu stärken. Sonst können Selbstzweifel zum Hindernis werden, wie der gleichnamige Artikel veranschaulicht.

📚 Quelle: Clance, P. R., & Imes, S. A. (1978). The Impostor Phenomenon in High Achieving Women: Dynamics and Therapeutic Intervention. Psychotherapy: Theory, Research & Practice, 15(3), 241-247.


24. Gesetz der umgekehrten Anstrengung (Law of Reversed Effort)

📖 Dieser Effekt besagt, dass je bewusster man sich anstrengt, eine bestimmte mentale oder emotionale Reaktion zu erzeugen (z. B. zu entspannen oder einzuschlafen), desto schwieriger wird es. In Bildungskontexten kann dieser Effekt dazu führen, dass Schüler:innen, die sich krampfhaft auf eine Prüfung konzentrieren, unter höherem Stress leiden und schlechter abschneiden: The harder you try, the harder you fall.

🎓 Konsequenz: Achtsamkeits- und Entspannungstechniken können helfen, Stress zu reduzieren und natürliche Konzentrationsprozesse zu fördern. Hier 11 Übungen für den Alltag, vorgeschlagen vom deutschen Fachzentrum für Achtsamkeit.

📚 Quelle: Watts, A. (1951). The Wisdom of Insecurity. Pantheon Books.


25. Proteus-Effekt

📖 Der Proteus-Effekt beschreibt, wie Menschen ihr Verhalten an digitale Identitäten oder Avatare anpassen. In virtuellen Lernumgebungen und auch bei Videospielen nehmen Schüler:innen oft Rollen an, die ihr Verhalten in der realen Welt beeinflussen (siehe hierzu eine rezente Analyse der diesem Effekt zugrundeliegenden Prozesse). Ein selbstbewusst aussehender Avatar kann z. B. dazu führen, dass sich ein:e Schüler:in selbstbewusster verhält.

🎓 Konsequenz: Digitale Bildungsräume sollten bewusst gestaltet werden, um positive Verhaltensweisen zu fördern und soziale Ängste zu reduzieren.

📚 Quelle: Yee, N., & Bailenson, J. (2007). The Proteus Effect: The Effect of Transformed Self-Representation on Behavior. Human Communication Research, 33(3), 271-290.


26. Thomas-Theorem

📖 Das Thomas-Theorem besagt: „Wenn Menschen Situationen als real definieren, sind sie in ihren Konsequenzen real.“ Dieses Prinzip bedeutet, dass Überzeugungen und Wahrnehmungen von Realität das Verhalten beeinflussen – unabhängig davon, ob die zugrunde liegende Annahme objektiv korrekt ist. Im Bildungsbereich zeigt sich dies etwa, wenn Schüler:innen sich selbst als „schlecht in Mathe“ sehen und sich deshalb weniger anstrengen, was wiederum ihre Leistung senkt. Weitere Beispiele finden sich im Podcast Radiophilosophie.

🎓 Konsequenz: Lehrkräfte sollten darauf achten, dass Schüler:innen positive Selbstbilder entwickeln, da diese ihre tatsächliche Leistung beeinflussen können.

📚 Quelle: Thomas, W. I., & Thomas, D. S. (1928). The Child in America: Behavior Problems and Programs. New York: Knopf.


27. Matilda-Effekt

📖 Der Matilda-Effekt beschreibt die systematische Unterschätzung oder Nichtanerkennung der wissenschaftlichen Beiträge von Frauen im Vergleich zu Männern. Besonders im schulischen und akademischen Umfeld zeigt sich dieser Effekt, wenn Mädchen seltener als talentiert in MINT-Fächern erkannt oder gefördert werden. Ein lesenswerter Beitrag im National Geographic gibt zahlreiche Beispiele. Viele heutige Erfindungen und Prozesse wären ohne Frauen nicht denkbar und dennoch kennt niemand die Namen der Frauen.

🎓 Konsequenz: Lehrkräfte sollten bewusst darauf achten, dass Mädchen und Jungen gleichermaßen gefördert werden, insbesondere in Fachbereichen, in denen stereotype Geschlechterbilder vorherrschen. Dies gilt es insbesondere auch vor dem Hintergrund KI-generierter Bilder zu berücksichtigen. Aber auch die Wahl der Beispiele, die wir im Unterricht und in der Lehre geben, spielt eine Rolle.

📚 Quelle: Rossiter, M. W. (1993). The Matthew Matilda Effect in Science. Social Studies of Science, 23(2), 325-341.


28. Asch-Effekt

📖 Der Asch-Effekt beschreibt die Tendenz von Menschen, ihre Meinung an eine Gruppenmehrheit anzupassen – selbst wenn diese offensichtlich falsch ist. In einem bekannten Experiment zeigte der Psychologe Solomon Asch, dass Versuchspersonen falsche Aussagen über die Länge von Linien akzeptierten, wenn eine Mehrheit in der Gruppe diese Falschaussage unterstützte. Im Unterricht kann dies dazu führen, dass Schüler:innen sich eher der Gruppenmeinung anschließen, selbst wenn sie wissen, dass diese falsch ist.

🎓 Konsequenz: Kritisches Denken und die Förderung individueller Urteilsbildung sollten aktiv im Unterricht integriert werden, um Gruppenzwang entgegenzuwirken.

📚 Quelle: Asch, S. E. (1951). Effects of Group Pressure upon the Modification and Distortion of Judgments. In Harold Guetzkow (ed.), Groups, Leadership and Men. Pittsburgh: Carnegie Press, 177-190.

Ein Gedanke zu „Von Matthäus bis Matilda: Wie unsichtbare Effekte unser Lernen beeinflussen

  • April 9, 2025 um 10:29 a.m. Uhr
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    Sehr spannend und gut erklärt – gerade der Matthäus-Effekt ist für viele völlig unsichtbar, obwohl er im Alltag massiv wirkt. Ich erlebe oft, dass Menschen an sich zweifeln, obwohl ihr Umfeld – ganz unbewusst – täglich diesen Effekt verstärkt.

    Lernen ist für mich nicht nur kognitiv, sondern auch emotional und energetisch. Und genau dort greifen diese unsichtbaren Effekte tief ins Selbstbild ein. Danke für diesen wichtigen Beitrag – er regt zum Weiterdenken an.

    Maik

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