Stellt man Kindern und Jugendlichen Technologien zur Verfügung, dann können sie sich selbst unterrichten und lernen dazu. Wie sich Kinder „selbstständig unterrichten können“, berichtet Sugata Mitra in einem sehr bekannten TED-Talk.
In diesem Vortrag beschreibt Prof. Mitra sein Projekt Hole in the Wall, das er seit 2001 durchführt.
Bei diesem Projekt wird indischen Kindern, die in Slums leben, der Zugang zu Lernprogrammen über Computer in Wandlöchern ermöglicht. Die Begleitforschung dazu konnte zeigen, dass Kinder alleine aufgrund der Zugänglichkeit „lernen“, z.B. einfache Computer-Skills. Dieser Ansatz erinnert auch an das Projekt One Laptop Per Child (OLPC), bei dem Kindern in weniger entwickelten Regionen in Afrika, Asien und Südamerika kostengünstige Laptopcomputer zur Verfügung gestellt wurden. Bei beiden Projekten soll alleine das Vorhandsein von Technologie Lernen ermöglichen und verändern. Bei Mitra heißt dieser Ansatz self-organised learning environments [1].
Wertschätzung vs. Kritik
De Bruyckere, Kirschner und Hulshof (2015: 158-161) widmen sich diesem Thema in einem kurzen Abschnitt. Sie gehen dabei vorsichtiger vor als in anderen Kapiteln, stellen sie doch von Beginn an klar: „To be clear, we have nothing against the good work that the professor tries to do.“ (De Bruyckere et al. 2015: S. 158) Das „tries“ deutet bereits an, dass sich in diesem Projekt (wie auch in OLPC) Unzulänglichkeiten finden lassen. Diese sind in erster Linie forschungsmethodischer Natur, so wird etwa auch kritisiert, dass die Veröffentlichungen zu dem Projekt nur in einem Journal passieren und die Forschung dazu nur von Mitra selbst oder von engen Mitarbeiter*innen durchgeführt wurde.
Diese Kritik ist mit Vorsicht zu genießen: De Bruyckere et al. (2015: 160) richten sich gemäß ihrer eigenen Profession gegen das rein selbst-entdeckende Lernen. So schreiben sie etwa, dass wahrscheinlich komplexere Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickelt hätten werden können, wenn diese Kinder auch noch Unterstützung von Lehrpersonen erhalten hätten. Sie sehen die Gefahr vor allem darin, dass andere solche Projekte nachahmen und sich Erfolge erhoffen.
Unsere Sicht
Für uns war das Schreiben dieses Beitrags schwierig. Betrachtet man die Homepage von Sugata Mitra oder seines Arbeitgebers (Newcastle University) dann wird klar, dass ein regelrechter Hype um Hole in the Wall entstanden ist. Dieser Hype hat dafür gesorgt, dass Mitra heute international bekannt ist. Wahrscheinlich haben viele andere von seiner Popularität profitiert, wir wollen hier aber keine weiteren Spekulationen darüber anstellen.
Bezüglich der Wissenschaftlichkeit der Begleitforschung wagen wir auch kein Resümee, auf den ersten Blick sind die Journals, in denen Beiträge zu Hole in the Wall publiziert wurden, auf alle Fälle seriös, mit dem British Journal for Educational Technology ist sogar ein absolutes highly-ranked Journal dabei.
Was wir für uns aus diesem Beitrag und aus dem Kapitel mitnehmen ist, dass das bloße Zur-Verfügung-Stellen von Technologie für uns kein Weg ist, den es einzuschlagen gilt. Es bedarf einer genauen Planung, warum und wie eine Technologie zum Einsatz kommt, welches Bildungsanliegen damit gelöst werden kann/soll (Kerres, 2018) oder wenn über eine Technologie gelernt wird, brauchen die Lernenden unterstützende Maßnahmen dabei.
Ist dieser Mythos aktuell?
Dass diese Diskussion aber eine wichtige ist, zeigt die Prominenz der Diskussionen über die Rolle der Technologie im Lernprozess. Hier seien einige aktuelle Beispiele genannt:
- Warum der Grundsatz „Pädagogik vor Technik“ bestenfalls trivial ist (A. Krommer)
- Pädagogik vor Technik“ – eine Notiz (B. Blume)
- Mediendidaktische Professionalität bei der Konzeption und Entwicklung technologiebasierter Lernszenarien (M. Kerres)
- Blogparade: Zeitgemäßes Lernen konkret #lernparade (B. Blume)
- Didaktische Potentiale digitaler Medien. Der Einsatz digitaler Technologien aus grundschul- und mediendidaktischer Sicht (T. Irion & K. Scheiter)
- Selbstorganisiertes Lernen und neue Technologien – Erwachsenenbildung vor neuen Herausforderungen (F. Rosenberger)
Halbzeit im Mythenkalender
Da wir bei diesem Beitrag ein wenig von der Linie des Buches über die Urban Myths abweichen, wird es auch Zeit, euch kurz etwas über die Autoren zu erzählen. Im ersten Kapitel The Big Clear-Out bezeichnen sie sich selbst als neurocognitivists, wobei sie das nur tun, falls jemand von ihnen eine Positionierung entsprechend den Lerntheorien verlangen würde. Alle drei verbindet also, dass sie in erster Linie Erkenntnisse der Kognitionspsychologie und den Neurowissenschaften für ihre eigenen Forschungsvorhaben oder allgemeiner, für ihre berufliche Tätigkeit, berücksichtigen.
Wir glauben, für unsere Leser*innenschaft ist diese Info jetzt zur Halbzeit am 12.12.2019 wichtig, um unseren Mythenkalender vielleicht auch besser einordnen zu können. Wir berichten auch nicht Ergebnisse aus anderen Wissenschaftstraditionen, sondern fassen die Kapitel aus den beiden Mythen-Büchern zusammen und ergänzen sie um unsere Meinungen, Eindrücke und/oder Ideen.
Dass es noch viel mehr zu entdecken gibt, wissen auch De Bruyckere, Kirschner und Hulshof… und wir natürlich auch.
Quellen
- [1] https://www.ncl.ac.uk/solecentral/
- De Bruyckere, Pedro; Kirschner, Paul A. & Hulshof, Casper D. (2015). „Myths about Technology in Education. Myth 7: You Can Help Poor Children to Learn Just by Giving Them Access to Computers“, in: dies. (Hg.), Urban Myths about Learning and Education. Amsterdam et al.: Elsevier: 158-161.
- Kerres, Michael (2018). Mediendidaktik: Konzeption und Entwicklung mediengestützter Lernangebote (5. Auflage). Berlin: De Gruyter Oldenbourg Verlag.