Über die Schwäche

Wieso es wichtig ist, offen zu sein und Menschen ohne Vorurteilen zu begegnen.

Ich sitze heute in einem Workshop mit Simone Adams über Privilege Awareness und über Selbstreflexion. Und da ist es natürlich, dass man über so einiges nachdenkt. Zum Beispiel die Gesundheit.

Der Mensch als Roboter*in

Kennt ihr das, dass Menschen funktionieren? Es geht ihnen nicht gut, aber sie funktionieren, weil sie funktionieren müssen. Wie Roboter*innen. Sie zeigen ihr Innenleben nicht nach außen. Es geht ihnen aber nicht gut.

Quelle: Pixabay

Und wenn man sie fragt, wie es ihnen geht, antworten sie mit: Gut. Wir fragen nicht weiter nach. Wir sind damit zufrieden. Wie soll es dem Gegenüber auch anders gehen? Das ist Smalltalk. Interessiert uns das Gegenüber wirklich? Haben wir Zeit für das Gegenüber?

Einschränkungen: (un)sichtbar

Man kann manche Einschränkungen auf den ersten Blick sehen: Brillenträger*innen, Rollstühle, Lähmungen. Manche nicht: Burn-out, Depression, Müdigkeit. Man kann in niemanden hineinsehen. Auch die Seele kann verletzt und beeinträchtigt sein. Während wir bei Knochenbrüchen Ärzte aufsuchen, tun wir uns bei der Seele schwer. Und wir reden auch nicht darüber. Gerade dieses Nicht-Darüber-Sprechen belastet uns noch viel mehr.

Eine fehlerfreie Gesellschaft?

Wir leben in einer Gesellschaft, in der alle das Gefühl haben, stark sein zu müssen. Schwächen zeigt man nicht. Versagen passt nicht in die Gesellschaft. Fehler sind etwas Übles. Sie werden in der Schule als solche markiert. Es sind „nur“ acht von zehn Vokabeln richtig. Oder sind acht von zehn Vokabeln richtig? Ist das Glas halbvoll oder ist es halbleer?

Wir leben in den Social Media ein Leben in der Gesellschaft der Singularitäten, wie Andreas Reckwitz schreibt. Wir zeigen uns von unserer besten Seite. Auch ein Bad-Hair-Day wird stilisiert. Das Essen wird als #foodporn dargestellt. Man zeigt sich beim Fitnesstraining. Alles wirkt perfekt. Wie aber sieht es dahinter aus? Ein Blogpost zu Instagram und zur sozialen Ungerechtigkeit folgt noch. Heute eine kurze Notiz zur digitalen Lehre vor dem Hintergrund der Privilege Awareness.

Kamerapflicht

In Videokonferenzen wird immer wieder gefordert, die Kamera einzuschalten, damit man nicht gegen eine Wand spricht. Man will die Emotionen des Gegenübers sehen. Es ist aber anstrengend, alle Menschen immer zu sehen. In einem Klassenzimmer sieht man die meisten nur mit dem Rücken. Man fühlt sich anders beobachtet. Man kann auch mal gähnen und nur die Lehrperson sieht es. Und vielleicht wollen wir niemanden in unsere Zimmer lassen. Vielleicht ist im Privatbereich der einzige Raum, den ich habe, der Schrankraum. Weil es da ruhig ist. Weil es da ordentlich ist. Weil es da Internet gibt.

Kognitive Belastung

Unabhängig von der Tatsache, dass im Home Office oder im Home Schooling Arbeitsplatz und Privatleben keine räumliche Trennung erlauben, ist das private Umfeld vielleicht auch ein belastendes. Der Schreibtisch ist ein Chaos, das Bett ist nicht gemacht, das Geschirr sollte in die Spülmaschine. An der Tür klingelt die Post. Die Katze will geführt und der Hund Gassi geführt werden. Und die Pflanzen sollten auch wieder gegossen werden. Wir haben viele Reize um uns herum, die uns ablenken, unseren Arbeitsspeicher belasten. Sie behindern uns beim Lernen (und auch beim Lehren). Ich möchte hierzu eine Videoserie von Joe Buchner empfehlen:

Der Digital Divide

Können wir davon ausgehen, dass alle Studierenden/Lerner*innen einen funktionierenden Computer zuhause haben? Oder ein funktionierendes Smartphone? Einen Drucker? Eine stabile Internetverbindung? Eine Kamera? Ein Mikrophon? Können wir nicht. Vor allem deshalb nicht, weil vielfach nicht jede Person im Haushalt eigenes Gerät hat. Synchrone Unterrichtseinheiten sind sehr wichtig, weil man eine soziale Beziehung aufbauen kann. Man kann sich live und in Echtzeit austauschen. Für Menschen mit Betreuungspflichten ist es aber schwierig.

Unser Rucksack

Jede*r von uns hat einen eigenen Rucksack mitzunehmen. Ob es nun das White Privilege ist, oder ob es die von Watzlawick genannte Landkarte ist, mit der wir unsere Wirklichkeit konstruieren. Unsere wertegeprägte Wirklichkeit, auf Basis eines Eurozentrismus. Wichtig ist, sich seines eigenen Rucksacks bewusst zu sein. Wir sollten unseren blinden Fleck, ich mag Luhmanns Begriff, kennen. Wir sollten manchmal reflektierend zur Seite steigen und die Situation neu bewerten. Einmal durchatmen. Eine neue Brille aufsetzen. Die Beobachtung hinterfragen.

Le Petit Prince

Erinnert euch da an den kleinen Prinzen:

Il est très simple: on ne voit bien qu’avec le cœur. L’essentiel est invisible pour les yeux.

Le Petit Prince (Antoine de Saint-Exupéry)

Es ist ganz einfach: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.

In der Lehre arbeiten wir mit Menschen. Wir sind Menschen. Gerade im digitalen Raum, den wir noch nicht so gewohnt sind, müssen wir vielleicht neue Rahmenbedingungen in der Planung von Lehrprozessen und Begleitung von Lernprozessen mitdenken. Wir sollten dabei niemandem mit Vorurteilen gegenübertreten. Wir sollten Fehler und Schwächen erlauben, sie reflektieren und aus ihnen lernen oder an ihnen arbeiten. Wir sollten. Es liegt an uns, es auch zu tun.

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