Die Begründungskompetenz: ein Plädoyer über die Mathematik hinaus

Die Beschreibungs- und Begründungskompetenz ist in der Mathematik längst bekannt. Durch KI-basierte Anwendungen ist sie nun allgemein relevant.

Künstliche Intelligenz stellt unser Schulsystem vor neue Herausforderung. Wie oft habe ich eine derartige Schlagzeile gelesen. Ich habe ja eher den Eindruck, dass Künstliche Intelligenz jene Baustellen, die wir schon seit geraumer Zeit „mitziehen“, (noch) sichtbar(er) macht. Das Institut für zeitgemäße Prüfungskultur beschäftigt sich damit schon länger. Das betrifft unterschiedliche Bereiche, meines Erachtens aber vor allem die Produktorientierung, den Fokus auf Schriftlichkeit, das inselhafte Bulimielernen und den Messbarkeitswahnsinn.

Prozess- statt Produktorientierung

In vielen Fällen wird an Universitäten und auch Schulen der Fokus auf ein fertiges Produkt gelegt, das am Ende des Semesters oder nach einer gewissen Projektphase summativ beurteilt wird. Die Proseminararbeit oder auch die Bachelorarbeit sind zwei hochschulische Beispiele, die schriftliche Zusammenfassung eines Textes oder Videos als Hausübung ein Beispiel aus der Schule. Diese Produktorientierung und das summative Beurteilen einzelner Produkte sollte einer Lernprozessbegleitung weichen. Die Schüler*innen und Studierenden müssen dabei die einzelnen Etappen eines Artefakts – von den Notizen bis zum fertigen Artefakt – als Einzelschritte nachweisen und bekommen auf diese Einzelschritte formatives Feedback. Gleichsam müssen sie die einzelnen Schritte, die sie unternehmen, als solche beschreiben und begründen: Die Beschreibungs- und Begründungskompetenz, die in der Mathematik und der Fachdidakitk bereits Tradition haben (als Beispiel ein Beitrag aus dem Friedrich Verlag bzw. ein Beitrag der Uni Wien) werden zentraler. Sie zeugen von einem Methoden- und Prozessverständnis, das eine Anwendung des Gelernten auch in anderen Kontexten ermöglicht, Zusammenhänge zwischen einzelnen Bereichen herstellt und damit den Schritt von der Performanz zur Kompetenz ermöglicht.

Mündlich ist das neue Schriftlich

Viele Leistungsfeststellungen sind aktuell im schriftlichen Kontext verhaftet: Schularbeiten, Tests, Dokumentationen, Laborberichte. Nichts leichter als Texte von KI-basierten Anwendungen verfassen zu lassen. Auch wenn ausgewiesen werden muss, dass Texte mit Hilfe einer KI geschrieben worden sind, heißt das nicht, dass die Lerner*innen (egal, ob Schüler*innen oder Studierende) jene Teile, die nicht von einer KI generiert worden sind, selbst verfasst haben. Oder die generierten Produkte auf Korrektheit, Relevanz und Aktualität überprüft haben. Mit der Anbindung von ChatGPT an das Internet bzw. seine Integration in Bing ist das Generieren von Texten eine Kleinigkeit. Eine Erörterung ist schnell generiert, eine Zusammenfassung erstellt.

Nicht mal mehr die Mindmap als Visualisierung lässt sich als Auftrag geben, denn auch diesen kann die KI mit dem passenden Prompt schon perfekt erstellen und auch visualisieren; Ähnliches gilt für Concept Maps, Infographiken und bei Sketchnotes. Grundsätzlich können wir heute festhalten: There’s an AI for that. Und wenn es noch keine gibt, dann wird es schon bald eine geben (falls der Bedarf vorhanden ist).

Quelle: Pixabay

Neben der Prozessbegleitung in der Erstellung dieser (schriftlichen) Artefakte wäre auch eine mündliche „Defensio“ (hier ein paar Gedanken dazu) eine Möglichkeit, die Beschreibungs- und Begründungskompetenz zu forcieren. Die Schüler*innen und Studierenden erstellen eine schriftliche Arbeit, präsentieren diese mündlich und „verteidigen“ die Arbeit in deren Stärken und Schwächen. Auch hier müssen sie die jeweiligen Entscheidungen, die sie getroffen haben, begründen und dabei auch gegebenenfalls über den Tellerrand blicken.

Wider das inselhafte Bulimielernen

Dieser Punkt führt zum Ende des inselhaften Bulimielernen (ich frage mich ehrlich, wie man beim Bulimielernen auch positive Seiten identifizieren kann). Bei Studierenden fällt es mir aktuell besonders auf, aus Erzählungen weiß ich aber, dass in der Schule das gleiche Phänomen vorhanden ist. Die Lerner*innen lernen für eine Prüfung, breiten ihr angestrebertes Wissen bei der Prüfung aus und sind danach vollkommen leer, weil sie nicht verknüpfend gelernt haben. Sie können zwischen zwei Prüfungen oder Fächern keine Verbindungen herstellen, weil es bei Multiple-Choice-Prüfungen auch gar nicht notwendig ist. Gegen Multiple-Choice-Prüfungen spricht nun im Grunde auch wirklich nichts, aber sie sind eben nicht in allen Kontexten und Fächern von Vorteil. Dies zeigt auch Niels Cimpa in seinem Buch Erfolgreich lernen mit Chat – GPT und aus der eigenen Lernhölle entkommen.

Das Lernen braucht Verbindungen und KI kann uns dabei helfen, Verbindungen aufzuzeigen und diese in unseren Lernkontext zu integrieren, wodurch ein nachhaltigeres Lernen möglich ist (z.B. durch das Anknüpfen an vorhandenes Vorwissen).

Messbarkeitswahnsinn

Gerade Multiple-Choice-Formate wie auch die Übungen von Sprache im Kontext (Language in Use) bei der Standardisierten Reife- und Diplomprüfungen in den lebenden Fremdsprachen sind aber eines: messbar und damit auch vergleichbar. Sie sind einfach zu korrigieren, es gibt einige wenige richtige Antworten (oder sogar nur eine richtige Antwort). Nicht alles ist aber (sofort) messbar im Lernprozess. Manche Kompetenzen lassen sich über Performanzen schnell erschließen. Andere Kompetenzen zeigen sich aber vielleicht erst verspätet oder in anderen Kontexten. Eben durch eine Übertragung, was ja auch einer der Ansprüche an eine Kompetenz (im Gegensatz zur Performanz) ist.

Alter Wein in neuen Schläuchen

Wenn wir ehrlich sind, sind das genau jene Baustellen, die wir schon seit Jahren beklagen und für die wir Lösungen suchen. Die Künstliche Intelligenz (oder genauer: KI-basierte Anwendungen) zeigen sie nur noch einmal deutlich auf. Dabei sollte man bedenken, dass wir frei nach Gerhard Brandhofer (siehe bald im Sammelband Wirkmächtige Didaktik in einer Kultur der Digitalität) oder Bob Blume mit, über und trotz KI lernen können. KI kann im Unterricht als Tool verwendet werden (Lernen MIT), sie kann in ihrer Funktionsweise und ihren Resultaten thematisiert werden (Lernen ÜBER) und sie kann uns Ressourcen beim Lernen „freischaufeln“ (Lernen TROTZ).

Quelle: Pixabay

Gerade dieser letzte Punkt der kognitiven Entlastung erscheint mir wichtig. KI erlaubt kognitive Entwicklung (ich habe dazu aus Sicht der Lehrperson bereits geschrieben) und nimmt uns lästige Arbeiten ab. Damit kann sie uns Zeit verschaffen, Zusammenhänge herzustellen und über Kausalitäten und Korrelationen nachzudenken (ein Punkt, der noch nicht jeder KI gänzlich gelingt). Und über Ergebnisse zu diskutieren, anstatt diese nur schriftlich festzuhalten. Damit wären wir wieder in einem diskursiven Kontext, der für das Lernen förderlich sein kann (ein Beispiel). Vielleicht schafft es die KI, uns wieder zum Diskutieren zu bringen. Vielleicht auch in einer Fishbowl. Die Chance lebt. Und in meinem Kopf schwirren noch ca. 1000 Gedanken zu diesem Thema. Fortsetzung folgt…

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