Warum wir Listen lieben und doch auch wieder nicht. Warum wir uns mit unserer Ordnungsliebe in einem Dilemma befinden, dessen wir uns bewusst sein sollten.
Jedes Jahr veröffentlicht Jane Hart ihre Liste der Top 100 Tools for Learning. Und jedes Jahr entsteht das gleiche kleine Ritual: Lehrende, Trainer:innen, Instructional Designer und EdTech-Enthusiast:innen scrollen durch die Liste (hier in der aktuellen Version), vergleichen, freuen sich über bekannte Namen und entdecken neue Tools, die „man sich unbedingt einmal anschauen sollte“. Ich bin da nicht anders. Die Liste ist informativ, inspirierend, manchmal auch überraschend. Sie wirkt wie ein Seismograph der digitalen Bildungslandschaft – was genutzt wird, was kommt, was verschwindet. Ihre Rezeption schwingt zwischen euphorisch und vorsichtig – wie der Bildungsinnovator und der Weiterbildungsblog exemplarisch zeigen.
Ähnlich beliebt ist das sogenannte Bloom’s Taxonomy Wheel – ein visuelles Ordnungsinstrument (auch als Poster downloadbar), das Lernaktivitäten und Apps den verschiedenen Stufen von Bloom’s Taxonomy zuordnet: vom Erinnern über das Verstehen bis hin zum Erschaffen. Dieses Wheel scheint Orientierung zu bieten: Wer wissen möchte, welche Apps sich fürs Analysieren oder Kreieren eignen, findet hier eine schnelle Übersicht. Und doch steht auch Bloom selbst in der Kritik, zielt er doch schließlich nur auf das Kognitive ab, nicht jedoch auf das Affektive, das für Haltung gegenüber Technologien eine wichtige Rolle spielt.
Doch in dieser Faszination für Listen, Wheels und Rankings steckt ein didaktisches Dilemma. Denn was als Orientierungshilfe gedacht ist, verführt leicht dazu, den Blick auf das Tool zu richten – und nicht auf das Lernen, wie man auf dieser Seite unter Activity sieht. Manchmal auf das Produkt des Lernens und nicht den Prozess des Lernens. Auf Objekte und nicht auf Subjekte.
Das Versprechen der Übersicht
Listen und Wheels beruhigen. Sie versprechen, Ordnung in eine unübersichtliche Welt zu bringen. In Zeiten kontinuierlicher technologischer Entwicklung, in denen ständig neue Anwendungen entstehen, ist das Bedürfnis nach Orientierung groß, wie auch die zahlreichen Listen und Wheels auf der Seite Educator‘s Technology oder die Übersicht auf Medien in der Schule vermuten lassen. Jane Harts Liste ist dabei nicht nur ein Ranking, sondern ein Spiegel: Sie zeigt, was Lehrende und Lernende tatsächlich verwenden. Das ist wertvoll – aber auch trügerisch. Denn Beliebtheit ist kein Qualitätskriterium.
Das Gleiche gilt für Bloom’s Wheel. Die Idee, digitale Tools mit den kognitiven Stufen des Lernens zu verknüpfen, wirkt auf den ersten Blick bestechend logisch. Doch Lernen lässt sich nicht in saubere Kategorien pressen. Eine App, die im Wheel dem „Remembering“ zugeordnet ist, kann – je nach didaktischer Gestaltung – ebenso gut „Creating“ fördern. Und umgekehrt. Das zeigt sich auch deutlich auf der Webseite There’s an AI for that. Es scheint: Für alles gibt es eine AI-Anwendung. Die Fluktuation auf der Webseite ist unglaublich hoch, spannend aber sind nicht die Tools, sondern die Tasks und die verknüpften Jobs. Verschiedenen Berufen sind Aufgaben zugewiesen, die von AI-Anwendungen übernommen werden können. Dabei sieht man, wie stereotyp Berufe gedacht sind.
Listen und Wheels geben Struktur – aber sie reduzieren Komplexität, wo wir sie eigentlich verstehen müssten.
Das Problem der Verwechslung
Das zentrale Problem ist die Verwechslung von Werkzeug und Wirkung: Wir glauben, weil ein Tool in einer bestimmten Kategorie steht, könne es automatisch eine bestimmte Kompetenz fördern. Aber Tools sind nur Mittel. Entscheidend ist, wie sie eingesetzt werden – in welchem Kontext, mit welchem Ziel, mit welcher pädagogischen Haltung: Ein Whiteboard-Tool kann eine reine Präsentationsplattform oder ein Raum für kollaboratives Denken sein. Ein Quiz-Tool kann zum Auswendiglernen anregen oder zum Reflektieren. Nicht das Tool entscheidet über den kognitiven Anspruch, sondern die didaktische Inszenierung.

Das bedeutet: Listen helfen – aber nur, wenn wir sie als Ausgangspunkt, nicht als Anleitung verstehen.
Warum wir Listen trotzdem lieben
Dass wir solche Rankings mögen, ist menschlich. Sie vereinfachen Entscheidungen, sie geben das Gefühl, etwas „im Griff“ zu haben. Außerdem erzeugen sie eine gewisse kulturelle Dynamik: Wer auf der Liste steht, gilt als relevant. Wer fehlt, wirkt plötzlich veraltet. Jane Harts Liste ist deshalb auch ein Stück kulturelle Praxis – sie zeigt, wie die Bildungscommunity über sich selbst nachdenkt. Sie ist ein kollektiver Diskurs in Listenform. Das ist spannend und aufschlussreich – aber es ersetzt keine pädagogische Reflexion.
Vielleicht liegt hier der wahre Wert solcher Listen: nicht in der Platzierung eines Tools, sondern im Gespräch, das sie anregen. Sie motivieren dazu, über Einsatzmöglichkeiten, über didaktische Ziele, über Medienkompetenz zu sprechen. Insofern sind sie weniger Landkarten, die den Weg vorgeben, sondern eher Wegweiser, die neugierig machen.
Will man etwas Neues ausprobieren oder sucht man nach Ersatz für ein eingestelltes Tool, kann die Webseite von AlternativeTo gut helfen. Hier finden sich Alternativen zu bekannten Tools, die zusätzliche Funktionen besitzen oder aber einen anderen Kostenplan verfolgen. Dies kann hilfreich sein, wenn beispielsweise Tools ihre Kostenpläne umstellen, wie dies aktuell bei Wakelet der Fall ist, und das Tool daraufhin nicht mehr eingesetzt werden kann, ohne hohe Kosten zu verursachen.
Klug nutzen statt blind folgen
Wer Listen klug nutzt, liest sie nicht als Anleitung, sondern als Anstoß. Er oder sie fragt nicht: Welches Tool ist das beste? Sondern: Warum steht es dort – und was bedeutet das für meinen Kontext, meine Lernenden, meine Ziele?
Das erfordert Zeit, Reflexion und Mut zum Ausprobieren. Vor allem aber braucht es ein Bewusstsein dafür, dass Digitalität kein Selbstzweck ist. Tools sind Vehikel, keine Richtung. Das Lernen bleibt das Ziel. Manchmal hilft hier der Austausch mit Kolleg:innen. Sie haben Erfahrungswerte und manchmal auch Empfehlungen, denen man folgen kann. Aber auch für diesen Austausch braucht es Zeit, die wir uns nehmen sollten.
Fazit
Das Dilemma der Listen und Wheels löst sich, wenn wir sie nicht als Rezepte, sondern als Ideenlieferanten verstehen. Sie können inspirieren, motivieren, zum Nachdenken anregen. Aber sie dürfen uns nicht den Blick auf das Wesentliche verstellen: Lernen ist ein menschlicher, situativer und relationaler Prozess. Kein Tool, keine Liste und kein Wheel kann das ersetzen.
Oder, in einem Satz zusammengefasst:
Nicht das Tool macht das Lernen gut – sondern das Denken, das wir mit dem Tool ermöglichen.
Mein Beitrag ist kein Rant gegen Listen und Übersichten oder Tool-Paraden, ich habe ja selbst auch einige davon auf meinem Blog (Schlagwort: Toolsammlung) und finde sie immer wieder inspirierend, wenn ich hierzu Fortbildungen besuche. Er ist ein Plädoyer für das Nachdenken über den Einsatz und die Möglichkeiten, ein Plädoyer dafür, das Lernen nicht über das Tool zu stellen. Aber auch nicht umgekehrt. Schon 2018 schrieb Axel Krommer Warum der Grundsatz „Pädagogik vor Technik“ bestenfalls trivial ist. Es sind keine zwei Eckpunkte – zu komplex ist die Beziehung, weshalb Philippe Wampfler, Wanda Klee und Axel Krommer von didaktischen Schiebereglern schreiben. Im genannten Blogpost geht es um die spezielle Situation in der Corona-Zeit, der Grundgedanke eines Kontinuums und damit des Schiebereglers lassen sich aber auch auf den Fachunterricht umlegen, wie Philippe Wampfler am Beispiel des Deutschunterrichts zeigt.
Es gibt nicht nur Schwarz-Weiß sondern viele Graustufen dazwischen. Es gibt nicht DAS richtige Tool, es gibt nicht DIE richtige Methode. Es geht um didaktische Entscheidungen, die wir als Lehrpersonen treffen (müssen, sollen, können, dürfen). Sie sollen unser Handeln leiten.