Gestern war Dienstag und Dienstag ist bekanntlich #EDchatDE-Zeit. Durch dieses Summer Special zum Thema Lebenslanges Lernen führten Steffen Jauch (@_jauch) und Christine Skupsch (@iqberatung) und die Diskussion war von Beginn an, nicht nur ob der hochsommerlichen Temperaturen, heiß. Und das kommt nicht von ungefähr, scheint das Thema wirklich eine breite Masse zu betreffen, interessieren und auch irgendwie aufzuregen.
Das startete schon zu Beginn mit der ersten Frage „Was ist Lebenslanges Lernen für dich?“. Eine Diskussion darüber entbrannte, ob man denn immer lerne oder eben nicht. Hier gingen die Meinungen schnell auseinander. Lernt man immer und überall oder lernt man dann, wenn mal will? Lernt man durch Beobachten und Wahrnehmen? Lernt man dann, wenn man explizit auf Lernen eingestellt ist? Lernt man dann, wenn man muss (z.B. für Prüfungen – das berühmte Bulimie-Lernen)? Kann man verlernen? Kann man Lernen lernen? Wie sieht es mit Kompetenzen aus – kann man diese lernen? Und wie kann man sie überprüfen? Diese und noch viele Fragen mehr wurden gestellt und eine Beantwortung in der Tiefe war nicht nur infolge der 140-Zeichen-Beschränkung auf Twitter nicht möglich.
Ich denke, viele der Fragen lassen sich nicht so einfach beantworten. Vor allem wenn man daran denkt, dass Lernen als Begriff nicht klar definiert ist. Geht es um das Lernen von Fakten oder von Handlungen? Geht es um das Verinnerlichen von Wertehaltungen? Geht es um Kompetenzen, die entwickelt oder gestärkt werden müssen/wollen/sollen? Es sind ganz unterschiedliche Definitionen von Lernen, die hier zum Tragen kommen. Oder vielleicht wird auch nur klar, wie heterogen und facettenreichen der Lernbegriff eigentlich ist. Hier mit Dichotomien zu spielen, ist schwierig. Lernen und Nicht-Lernen funktioniert ja schon mal als binäre Unterscheidung nicht wirklich. Lernen und Verlernen oder Erlernen und Verlernen? Es wird schwierig, weil die individuellen Konnotationen, die wir infolge unserer persönlichen und ganz privaten Dispositionen, unserer Vorerfahrungen aus der Lebenswelt oder Alltagsrealität haben, variieren und weit auseinanderklaffen können. Ich will ein paar persönliche Gedanken zum Thema äußern, wobei ich beim Schreiben merke, dass die Antwort nur ein kleiner Auszug sein kann, der noch dazu persönlich gefärbt und subjektiv mit Zitaten gefüllt und somit „angreifbar“ ist. Vielleicht antwortet auch jemand drauf, ist anderer Meinung oder gleicher/ähnlicher. Auch aus diesen Antworten kann ich lernen.
Vielleicht sollte man zwischen dem Lebenslangen Lernen, dem Lernen am Leben und dem Lernen für das Leben unterscheiden. Wann immer wir Erfahrungen machen, ob gute oder schlechte, Lernen wir für das Leben. Das Leben ist als Lernwelt zu sehen. In mancherlei Hinsicht bringt uns auch die Schule dazu, für das Leben zu lernen. Gestern wurde darüber diskutiert, ob die Inhalte, die in der Schule vermittelt werden, denn noch aktuell seien oder ob man diese wieder an das Leben anpassen müsse. Ich denke persönlich, dass die Mischung aus klassischer Bildung und aktuellen Themen ein Ziel sein sollte, dass aber vor allem das Wertelernen zentral ist. Lerner*innen sollen lernen, dass das Lernen an sich etwas Positives ist und dass man aus allen Erfahrungen, Wahrnehmungen und Beobachtungen lernen kann. Wenn ich als Kind die heiße Herdplatte berühre, dann lerne ich, dass diese heiß ist. Ich lerne aus dem Leben, auch wenn es schmerzhaft ist. Das hindert mich zwar nicht daran, dass heiße Bügeleisen zu berühren, aber nicht absichtlich, denn ich weiß, dass es heiß ist. Und wenn ich mich nur oft genug verbrenne, weiß ich auch, dass ich danach die kalte Wasserleitung aufsuche, um die Wunde zu kühlen. Ich lerne für das Leben bzw. lerne ich, auch wenn ich mir nicht bewusst bin, dass ich lerne. In der Schule wird oftmals nur das Faktenwissen geprüft. Folglich lernen die Schüler*innen Fakten, geben diese bei Prüfungen wieder und merken sich wenig für die Zukunft. Sie kennen das: Man lernt für eine Prüfung, eventuell sogar genau in den Worten oder Phrasen, die die Lehrperson benutzt hat, weil die Prüfung bzw. die Prüfer*innen das so wollen. Manchmal kann das sinnvoll sein, meistens aber nicht. Und der Lerneffekt bleibt, wie wir gestern auch in der Diskussion sahen, recht gering. Wichtig ist aber, dass die Schüler*innen gelernt haben, dass sie bei der einen oder anderen Lehrperson dieses Bulimie-Lernen anwenden müssen oder können. Das ist vielleicht gefordert, zumindest aber reicht es eben oft. Auch das ist Lernen.
Erinnern wir uns an Senecas zeit- oder gesellschaftskritisches Zitat: „Non vitae sed scholae discimus.“ [Seneca, Epistulae morales ad Lucilium, ep. 17-18] [Ein eigener Blogbeitrag hierzu, also zur Prüfungskultur, soll noch folgen.]
Lebenslanges Lernen bedeutet für mich deswegen eigentlich nur, sich die Freude am Lernen zu bewahren, neugierig zu sein, die Augen offenzuhalten, flexibel zu sein und vor allem auch zuzuhören. Aus dem Umgang mit Menschen lässt sich viel lernen. Kinder beobachten, nehmen wahr und lernen daraus. Ob das die Sprache ist, ob das Bewegungsabläufe sind, ob das der Umgang mit anderen Lebewesen ist. Sie sind vorurteilsfrei, offen und flexibel und werden erst nachträglich sozialisiert, vielleicht mit Rousseau und anderen Vertretern des Etat de nature gesprochen auch korrumpiert:
Ce passage de l’état de nature à l’état civil produit dans l’homme un changement très remarquable, en substituant dans sa conduite la justice à l’instinct, et donnant à ses actions la moralité qui leur manquait auparavant. C’est alors seulement que, la voix du devoir succédant à l’impulsion physique et le droit à l’appétit, l’homme, qui jusque-là n’avait regardé que lui-même, se voit forcé d’agir sur d’autres principes, et de consulter sa raison amant d’écoute, ses penchants. Quoiqu’il se prive dans cet état de plusieurs avantages qu’il tient de la nature, il en regagne de si grands, ses facultés s’exercent et se développent, ses idées s’étendent, ses sentiments s’ennoblissent, son âme tout entière s’élève à tel point que, si les abus de cette nouvelle condition ne le dégradaient souvent au-dessous de celle dont il est sorti, il devrait bénir sans cesse l’instant heureux qui l’en arracha pour jamais et qui, d’un animal stupide et borné, fit un être intelligent et un homme.
Jean-Jacques Rousseau (1762), Du contrat social ou Principes du droit politique; Chapitre 1.8
Menschen lernen von anderen, von der Gesellschaft, sie nehmen wahr und setzen um. Nicht grundlos beschreibt Schiller die Schaubühne als moralische Anstalt und sieht das Potential des Sehens und Beobachtens für das eigene Lernen. Aber das führt nun schon sehr weit weg. Wenngleich die Rolle der Gesellschaft eine wichtige ist und die Schule als Institution sich mit neuen Themen beschäftigen muss, die die Wertehaltung der Schüler*innen und die gegenseitige Wertschätzung betrifft. Als Beispiel, das gestern auch eingebracht wurde, sei der Blogbeitrag Demokratischer Disconnect von Bob Blume (@legereaude) genannt. Und da spielt eben auch der Bereich der Allgemeinbildung hinein, wenngleich der Begriff ebenso zu diskutieren ist. Wer bestimmt nämlich, was Teil der Allgemeinbildung ist? Wer zieht einen Strich zwischen Allgemein- und Spezialbildung? Wer sagt, was hinausfallen darf aus dem Lehr- oder Lernkanon, weil Neues dazukommt? Inwiefern stimmen wir der Aussage zu;
In der heutigen Zeit der ökonomischen Zwänge wird Schule immer mehr unter dem Blickwinkel der Nützlichkeit gesehen. Gut ist, was nützlich ist. Nutzen bringt.“
Bob Blume (2015), „Lernlust“: Auswertung der Blogparade
Stellen wir der Aussage Aesops Fabel Der Hahn und der Diamant (Der Hahn und der Edelstein) entgegen:
Ein Hahn scharrte auf einem Misthaufen und fand einen Diamanten. Er betrachtete ihn aufmerksam von allen Seiten und sprach: „Was soll mir dieser Stein nützen? Er hat wohl für einen Juwelier einen schätzbaren Wert, aber mir wäre ein Weizenkörnchen viel lieber.“
Aesop, Fabeln
Das Nützliche ist dem Schönen vorzuziehen, besonders, wenn der Wert des Letzteren in der Einbildung besteht.
Und ersetzen wir „dem Schönen“ mit „dem Wichtigen“. Und dann denken wir daran, dass die Spezialisierung dann basieren sollte, wenn eine solide Basis vorhanden ist (ja, auch die solide Basis ist ein schwammiger Begriff). So schreibt schon Friedrich Schiller über die Spezialisierung:
Auseinandergerissen wurden jetzt der Staat und die Kirche, die Gesetze und die Sitten; der Genuß wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus; ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft. Aber selbst der karge, fragmentarische Antheil, der die einzelnen Glieder noch an das Ganze knüpft, hängt nicht von Formen ab, die sie sich selbstthätig geben (denn wie dürfte man ihrer Freiheit ein so künstliches und lichtscheues Uhrwerk vertrauen?) sondern wird ihnen mit scrupulöser Strenge durch ein Formular vorgeschrieben in welchem man ihre freie Einsicht gebunden hält. Der todte Buchstabe vertritt den lebendigen Verstand, und ein geübtes Gedächtniß leitet sicherer als Genie und Empfindung.
Friedrich Schiller: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen. 6. Brief
Buchwissen statt Handlungswissen. Der gesunde Menschenverstand, der Hausverstand wird ausblendet, oft auch negiert. Auch dieser ist Teil des Gelernten. Wenn auch nicht des explizit Gelernten. Ich muss mich nicht hinsetzen, um etwas zu pauken, zu strebern, mir etwas einzutrichtern oder eintrichtern zu lassen. Ich kann auch nebenbei lernen. Also implizit.
Und dann kommt es auch noch ein wenig darauf an, ob ich in einer Institution sitze, um zu lernen (bewusst) oder ob ich dort unbewusst lerne. Ob ich außerhalb einer Institution bewusst lerne (also z.B. mit einem Sachbuch in der Hand im Stadtpark) oder unbewusst (also mit einem Buch der schönen Literatur, das auch Werte oder zumindest Sprachkompetenzen vermitteln kann). Hier wäre die Trias formales, non formales und informelles Lernen anzusetzen, wie sie auch vom CEDEFOP, dem Europäischen Zentrum für die Förderung der Berufsbildung, in den Europäischen Leitlinien für die Validierung nicht formalen und informellen Lernens verwendet wird. Und hier ist auch der Begriff des CPD zu verorten, also des Continuing Professional Development, das mit dem Lifelong Learning (LLL) Hand in Hand geht und eine spezielle Ausrichtung, nämlich eben das Lernen auf professioneller also beruflicher Ebene, meint. Eine Forderung, die es schon immer gegeben hat, die aber gerade im sogenannten digitalen Zeitalter mit immer kürzer werdenden Halbwertszeiten des Wissens und einer immer größeren Menge an Wissen durch ein Mehr an Forschung und Entwicklung immer wieder genannt wird. Dabei spricht man schon im Humanismus von einer Explosion des Wissens durch den Buchdruck. Durch den Fall des oströmischen Reichs kamen viele Gelehrte nach Italien und Deutschland und hatten griechische Texte im Original im Gepäck sowie auch die Kenntnis der griechischen Sprache, die fortan die unterschiedlichen gesellschaftlichen Systeme, also Bildung, Wissenschaft, Recht und Politik ebenso wie Ökonomie u.a., beeinflussten. Man sieht, die Forderung ist nicht neu. Auch hier musste man das Lernen und Lehren umstellen, musste Kanonisieren (oder kanonisierte). Man wurde sich bewusst, dass man nicht mehr alles wissen kann.
Und – ich komme zu einem Schluss, denn der Beitrag ist ohnehin schon sehr lange – deshalb finde ich den Konnektivismus als Lerntheorie des digitalen Zeitalters so spannend und sinnvoll. Ich kann nicht mehr alles wissen. Ich muss wissen, wo ich Informationen finde oder wen ich frage, wenn ich etwas wissen will. Wenn man den #EDchatDE betrachtet, so ist hier ein Pool an Wissensmultiplikator*innen vorhanden, die ich auch „anzapfe“, wenn ich was brauche. Und sie können mich anzapfen. Ein Geben und Nehmen, ein Wissen Konsumieren und Produzieren. In diesem Zusammenhang finde ich auch Timo van Treeks (@timovt) Initiative toll, eine Sammlung bloggender Hochschuldidaktiker*innen und öffentlicher Wissenschaftler*innen zu erstellen und dabei ebenso auf die Mitwirkung der Community zu bauen.
So sehe ich auch meine Rolle als Lehrende: Ich lerne von meinen Schüler*innen und sie lernen von mir. Ich erhebe nicht den Anspruch, alles zu wissen. Wie soll ich auch. Ich kann aber meinen Schüler*innen zeigen, wo sie Informationen finden. Ich kann ihnen dabei helfen, relevante von irrelevanten Informationen zu trennen, gute von schlechten Quellen zu unterscheiden. Ich kann ihnen beim Ausprobieren zur Seite stehen. Ich kann ihnen helfen, Dinge zu erlernen, aber ich lehre sie nicht. Ich lebe ihnen eine Werthaltung vor. Ich erhalte ihre Motivation, lernen zu wollen, neugierig zu sein und zu bleiben. Aber ich denke, damit bin ich schon einen Schritt weiter im nächsten Summer Special des #EDchatDE.
PS: Natürlich sollte hier auch noch die Unterscheidung zwischen Bildung, Ausbildung, Halbbildung, Unbildung, Nichtbildung, und wie die unterschiedlichen Derivate heißen, Beachtung finden. Das wird aber vielleicht einfach mal separat passieren. Oder durch Mithilfe der Community in den Kommentaren. 😉