Mythenkalender #17: Es gibt eine digitale Demenz.

Was gibt es Schöneres, als im Mythenkalender über Manfred Spitzer zu schreiben?

In den letzten Jahren scheint es einen Trend zu geben: Es gibt unterschiedliche Neurowissenschaftler*innen (wobei man hier vielleicht gar nicht gendergerecht formulieren müsste), die als „technological critics“ (De Bruyckere et al. 2015:145) auftreten und die Meinung vertreten, dass Internet und digitale Technologien im Speziellen machten uns immer dümmer. Manfred Spitzer betitelt seinen 2012 erschienenen Bestseller als Digitale Demenz. Er und andere Expert*innen gehen von der „plasticity of the brain“ (ebd.) aus und argumentieren, das Internet „is rewiring our brains and this is bad.“ (ebd.) Man sollte ihn mal in action sehen und hören:

Quelle: YouTube

Dabei wird auf den Flynn-Effekt referenziert: In einer Studie hat James Flynn, nach dem der Effekt benannt ist, herausgefunden, dass die bei IQ-Tests erzielten Resultate kontinuierlich angestiegen sind, der Anstieg in den letzten Jahren in einigen Ländern gebremst ist. Dabei wird aber überlesen, dass Flynn selbst die Resultate seiner Studie hinterfragt und sich nicht sicher ist, welche Faktoren auf die Ergebnisse genau Einfluss nehmen. So könnte einer der Gründe auch sein, dass die Getesteten auf die Frageformate der IQ-Tests hintrainiert werden. Auch gibt es, so De Bruyckere et al. (2015) Studien, die besagen, dass bei Nicht-Wissen stärker geraten werde.

Alles unklar

Sind also die Ursachen des Flynn-Effekts nicht klar, so sind auch die Gründe nicht klar, warum er gestoppt wurde. Die Autoren zitieren in ihrem Beitrag Studien, die besagen, dass der Einsatz (neuer) Technologien einen wichtigen Beitrag dafür leiste, den durchschnittlichen IQ-Wert anzuheben. Die Argumentation bleibt sehr vage. Die Autoren kritisieren viele Studien für ihren anekdotischen und eher persönlichen Zugang, vielen fehle die wissenschaftliche Basis, so die Autoren. Sie fassen ihre Gedanken prägnant zusammen:

„And in the final analysis, we certainly know more now than we did in the past. So why should we be more stupid?”

(De Bruyckere et al. 2015: 146)

Eine Antwort auf die Frage, ob das Internet oder digitale Technologien uns dümmer machen, bleiben sie schuldig. Sie geben dabei auch zu, die Antwort nicht zu kennen, vielfach fehle die wissenschaftliche Basis. So zitieren sie zahlreiche Gegenbeispiele gegen das Argument der Verdummung, betonen, dass digitale Medien das Gehirn nicht verändern können. Dabei argumentieren sie weitgehend sehr vorsichtig.

Google Effect

Ein von Manfred Spitzer gerne verwendetes Beispiel, um die digitale Demenz zu zeigen: Wie viele Telefonnummern können wir heutzutage noch auswendig? Überlegen Sie mal! Früher waren es mehr? Oder nicht? Gut, dann zählen Sie nun aber auch die Pincodes und Passwörter, die Sie sich merken müssen… Das Gemerkte verschiebt sich, aber es heißt nicht, dass wir uns nichts mehr merken.

Quelle: Pixabay

Betsy Sparrow, eine Professorin an der Columbia University in New York, wird hierfür von De Bruyckere et al. (2015: 146) als Beispiel angeführt. Sie hat die Bezeichnung Google Effect geprägt. Google wird dabei zunehmend zu unserer digitalen, externen Festplatte. Sparrow hat herausgefunden, dass sich Lernende Dinge eher merken, von denen sie meinen, sie würden sie nicht auf Google bzw. allgemeiner im Internet, finden. Darüber hinaus merken sich die Lernenden eher, wo man etwas findet als das Was. Dies entspricht dem konnektivistischen Ansatz von George Siemens. Eine neue Information oder Data Literacy ist notwendig (siehe auch #16).

Man sollte sich zu den neuen Kompetenzen auch Anitra Eggler ansehen:

Quelle: YouTube

Beschränkte Bildschirmzeit

Die finale Gedanken von De Bruyckere et al. (2015: 147) beschäftigen sich mit dem Thema der Bildschirmzeit. Ein seltsamer Sprung, der nur in Ansätzen nachvollziehbar ist. Jedenfalls plädieren sie dafür, die Bildschirmzeit – v.a. von Kindern – zu beschränken. Es gebe Studien, die die Beschränkung rechtfertigen, jedoch seien diese oftmals sehr alt und beschäftigen sich mit traditionellen Medien wie dem Fernsehen (siehe beispielsweise bei Hattie) und nicht interaktiven Medien. Vielfach basieren sie auf Korrelationen und nicht Kausalitäten und beachten andere Einflussfaktoren nicht. Zudem, so führen die Autoren abschließend an, sei auch immer darauf zu achten, was über Medien konsumiert werde. Es gehe nicht nur um die Quantität sondern auch um die Qualität. So wurde in den 1960ern der Sesamstraße vorgeworfen, sie habe einen negativen Einfluss auf die Konzentration der Kinder, da sie quasi wie eine Microlearning-Einheit aufgebaut ist, wie man heute sagen würde.

Und hier sind wir genau an dem Punkt angelegt, wo die Autoren eine starke Inkonsistenz zeigen: Die Frage nach der Verdummung wird abschließend zu einer Frage der Konzentrationsfähigkeit. Hier stellt sich die Frage, was das eine mit dem andere zu tun hat (was nicht bedeutet, dass diese beiden Faktoren nichts miteinander zu tun hätten). In unserer Generation gab es mit Am Dam Des, der Curiostiy Show, mit der Knoff-Hoff-Show und mit MacGyver durchaus auch Bildungsfernsehen –die samstäglichen Sprachkurse im österreichischen Fernsehen gar nicht erwähnt.

Quelle: YouTube
Quelle: YouTube
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Wie immer macht sicherlich die Mischung den Unterschied: Bildschirmzeit vs. bildschirmfreie Zeit, Bewegung vs. Nicht-Bewegung, längere Formate vs. kürzere Einheiten usw.

Was Autor*innen wie Manfred Spitzer und auch Gerald Hüther gut gelingt, ist auf einer (semi)wissenschaftlichen Ebene zu emotionalisieren und die Ängste und Befürchtungen ihrer Leser*innen anzusprechen. Sucht man nach wissenschaftlicher Stützung findet man sie, man kann die Gegenseite dabei, wie Spitzer es gerne macht, einfach ausblenden, oder aber, wie De Bruyckere et al. (2015) eine Lücke aufzeigen und keine eindeutige oder einfache Antwort abgeben.

Und nun?

Ob uns das Internet dement macht, ob uns digitale Medien dümmer machen – eine klare Antwort gibt es hierauf nicht. Vielfach bleiben wir in anekdotischen Aussagen verhaftet, vielfach werden Korrelation und Kausalität verwechselt. Feldforschungen und Replikationsstudien wären hier wünschenswert. Es gibt noch viel zu tun. Dass uns das Thema beschäftigt, zeigt der Hype um Digitale Demenz (siehe Twittersuche zu den Hashtags #digitaledemenz und #DigitaleDemenz). Aber die Kritik an Spitzer und Co kam prompt und manchmal auch sehr spitz:

Quelle: YouTube

Oder noch spitzer:

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Ja, die Videos sind sehr anekdotisch und nach persönlichem Geschmack ausgewählt – eine empirische, neutrale, reliable Untersuchung fehlt. Wir stehen dazu.

Quelle

De Bruyckere, Pedro; Kirschner, Paul A. & Hulshof, Casper D. (2015). „Myths about Technology in Education: Myth 4: The Internet Makes Us Dumber“, in: dies. (Hg.), Urban Myths about Learning and Education. Amsterdam et al.: Elsevier: 145-148.

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