Wir lernen 70% aus der Erfahrung, 20% aus der Interaktion mit anderen Menschen und 10% aus formalen Setting, wie Fortbildungen, Workshops und Seminaren. Stimmt diese Regel wirklich?
Immer wieder stolpert man – gerade in den letzten Jahren – über die 70-20-10-Regel, die besagt, dass wir 70% aus der Erfahrung, 20% aus der Interaktion mit anderen Menschen und 10% aus formalen Setting, wie Fortbildungen, Workshops und Seminaren lernen. Diese Formel statt aus der betrieblichen bzw. beruflichen Fort- und Weiterbildung und hat sich auch im Ausbildungsbereich, also dem Schul- und Hochschulbereich einen Namen gemacht. Ich habe die Regel selbst im Blog schon als Argumentationsgrundlage oder als Gedankenanstoß genutzt.
De Bruyckere et al. (2015) [1] sind dem Mythos auf die Spur gegangen und haben dabei herausgefunden, dass…
… sich die Formel aus der beruflichen Weiterbildung nur schwer auf die Ausbildung übertragen lässt bzw. es hierzu keine wissenschaftlichen Untersuchungen gibt.
… die als Quelle zitierten Autoren McCall, Eichinger und Lombardo ihre Aussagen sehr vage formulieren und diese nur auf die Entwicklung von Leadership Skills beziehen.
… das Modell an das Eisberg-Modell des Lernens zurückgeht, ein Modell, das eigentlich Archimedes geprägt hat.
… es andere Studien gibt, wie beispielsweise von Enos, Kehrhahn und Bell, die eine andere Prozentverteilung vorschlagen – nämlich 16-44-30, wobei 10% nicht gefüllt werden. Diese Studie ist aber aufgrund ihres geringen Samples wenig aussagekräftig.
… das informelle Lernen wichtig ist, aber nicht so einfach in eine Prozente-Schiene gepackt werden kann.
Ist das Thema wirklich aktuell?
Betrachtet man die Diskussion über die 70-20-10-Regel, so erkennt man, dass sie immer wieder zur Rechtfertigung und Begründung herangezogen wird, aber auch als Muster und Vorlage – jedoch tatsächlich vor allem im Bereich der innerbetrieblichen Fort- und Weiterbildung:
- Twitter-Suche zu 70 20 10 bzw. 70-20-10.
- Das 70-20-10-Modell – Lernen neu entdecken
- Das 70:20:10-Modell – die moderne Form der Weiterbildung
- 70-20-10-Modell
- Das simple Rezept zum guten Netzwerken
- 70:20:10-Modell und Five Moments of Need
Dabei werden auch kritische Stimmen laut:
- Evaluation des 70:20:10-Modells – 4 Gründe für fehlende Wirkung
- 70-20-10-Wunschdenken. Zweifel an der Realitätsnähe der „Bildungsformel“
- 70-20-10 – eine Abrechnung
Wie kommt man gegen den Mythos an?
Indem man eine empirische Studie durchführt, die den Gütekriterien entspricht. Besonders die Erhebungsmethode sollte dabei über eine persönliche Einschätzung hinausgehen und die tatsächliche Situation beschreiben. Wie lernen Führungskräfte? Wie lernen Mitarbeiter*innen? Wie lernen Lehrende? Wie lernen Schüler*innen?
Eine differenzierte Betrachtung wäre wünschenswert, wobei hier auch der eurozentristische Blick als eine Limitation genannt werden sollte. Die 70-20-10-Regel als anthropologische Konstante zu sehen, erscheint durchaus bedenklich (wobei auch diese Aussage subjektiv und nicht wissenschaftlich bewiesen ist). Auch die Übertragbarkeit aus der (inner-)betrieblichen Fort- und Weiterbildung, also dem Lernen am Arbeitsplatz, auf das Lernen in einer Ausbildungssituation bleibt zu erheben.
Dabei sei noch einmal betont, dass das informelle Lernen in der heutigen Zeit zweifelsfrei eine zentrale Rolle spielt oder zu spielen scheint, denn auch hierzu sollten Studien angefertigt werden. Das Bauchgefühl hat nicht immer recht.
Quelle
[1] De Bruyckere, Pedro; Kirschner, Paul A. & Hulshof, Casper D. (2015). „Myths about Learning. Myth 3: You Learn 70% Informally, 20% from Others and Just 10% through Formal Education“, in: dies. (Hg.), Urban Myths about Learning and Education. Amsterdam et al.: Elsevier: 36-38.