Stille aushalten lernen. Das Ich kennenlernen.

Haben Social Media und die Pandemie unsere Wahrnehmung und unsere Kommunikation verändert? Eine Zusammenfassung und Fortführung der Gedanken aus dem Workshop zu „Bildwelt der Jugendlichen“ für die Stabstelle Medien.Pädagogik.Didaktik an der ALP Dillingen.

Ich starte ein wenig provokativ. Stille ist etwas, das Lehrende nur selten lange aushalten. Seien wir uns ehrlich. Wir stellen eine Frage. Wir warten auf die Antwort. Nach wenigen Sekunden ist uns die Stille unangenehm. Die Lernenden überlegen noch, man sieht es ihnen an. Wir überbrücken die Stille, fragen nach. Das kann Stress erzeugen. Wir liefern zusätzliche Informationen. Das kann Stress erzeugen. Wir fragen eine:n Lernende:n direkt. Das erzeugt wahrscheinlich Stress. Wieso tun wir das?

Hören wir uns einfach gerne reden, wie im Interview mit Hilbert Meyer mit dem Titel Lehrer sollten öfter den Mund halten festgestellt wird? Haben wir nicht gelernt, Fragen zu stellen und auf Antworten zu warten, wie der Beitrag Fragetechniken für Trainer und Lehrer irgendwie durchblicken lässt? Sind wir ungeduldig, weil wir allesamt unter Druck stehen, wie in Über ein richtiges Lehrer-Leben im falschen Schulsystem zu lesen ist? Sind wir in einer Welt von TikTok und Instagram reizüberflutet und an Stille gar nicht mehr gewöhnt, wie bei Tipps für Lehrer – Die Minute der Stille – Einstieg in den Unterricht zu lesen ist? Artikel wie Small Shifts to Limit ‘Teacher Talk’ and Increase Engagement helfen uns dabei, die Lerner:innen zu aktivieren. Wir wissen, dass wir viel reden. Wieso ändern wir es nicht?

Keine Antwort

Ich habe keine Antwort. Ich muss es zugeben. Wahrscheinlich ist es eine Mischung aus allem, je nach Individuum, ganz individuell. Ich glaube aber, dass Menschen mit sich selbst und mit Stille und Ruhe nur schwer umgehen können, weil sie dann auch Zeit haben, nachzudenken. Über sich selbst. Über andere. Man ist vermeintlich nicht produktiv – in der Leistungsgesellschaft kein so gutes Zeichen. Oder gerade eben doch.

Zahlreich sind die Beiträge – in unterschiedlichen (!) Kanälen –, die uns die Wichtigkeit von Stille und Ruhe vorführen:

Die Liste ließe sich beinahe endlich verlängern. Den Beiträgen gemein ist aber der Grundtenor, dass wir mit der Stille umgehen lernen müssen. Kein eleganter Satz, aber die Quintessenz zählt.

Scham der Offenheit bzw. Direktheit

In der Fortbildung „Bildwelt der Jugendlichen“, die ich Mitte Februar an der ALP Dillingen halten durfte, wurde genau dieses Stille-Problem angesprochen. Ausgangspunkt war die Frage, ob wir heute noch telefonieren oder nicht. Jugendliche schicken sich Bild- und Textnachrichten, wenn sie in Messengern miteinander kommunizieren. Sie schicken sich (für Ältere umständlich anmutende) Sprachnachrichten, wo ein kurzes Telefonat vielleicht eine schnelle Klärung erreichen würde. Im Gespräch hat sich gezeigt, dass auch einige Erwachsene die direkte Kommunikation als unangenehm empfinden. Jemanden anzurufen, ist das Eindringen in die Privatsphäre. Man könnte stören oder einen falschen Zeitpunkt erwischen. In einer On-Demand-Gesellschaft sind wir gewöhnt, Serien und Filme dann zu schauen, wenn es uns passt und nicht zu einer bestimmten Zeit. Mir scheint, dieses Phänomen zieht sich auch in der Kommunikation weiter. Michael Debbage-Koller nannte die Situation die Scham der Offenheit bzw. die Scham der Direktheit. Direkte Kommunikation werde vermieden – Sprachnachrichten statt Telefonat. Ich kann die Überlegung nachvollziehen. Wir antworten auf die Sprachnachricht, wenn es uns passt. On Demand quasi. Direkte Kommunikation ist ein Einschnitt. Dass man aber auch bei einem Anruf nicht unbedingt direkt abheben muss, sondern auch zurückrufen kann, sollte man nicht vergessen. Wirkt das dann aber vielleicht unhöflich?

Vom Telefonat zur Frage im Klassenzimmer

Die Gedanken zum von der Sprachnachricht abgelösten Telefonat führte zu einer Diskussion über die direkte Kommunikation im Klassenzimmer. Teilnehmer:innen berichteten darüber, dass Schüler:innen zunehmend erschrocken, ablehnend oder auch verwirrt auf direkte Fragen der Lehrperson reagieren. Aber eben nicht antworten. Es wurde gemutmaßt, dass sie nach zwei Jahren Pandemie nicht mehr gewöhnt seien, direkt zu antworten, dass ihre Welt eine asynchrone Welt der Nachrichten und Kommentare sei und dass ein direktes Fragen wie ein Eindringen in die Privatsphäre empfunden werde.

Quelle: Pixabay

Wir haben anschließend gemeinsam darüber nachgedacht, wieso dem so ist. Sind wir durch Corona angstbehafteter und durch die vielen Lehr- und Lernvideos gar nicht mehr so sehr daran gewöhnt, mit anderen Menschen direkt und mündlich (nicht schriftlich) zu kommunizieren? Sind wir Lehrer:innen ungeduldiger als früher? Oder denken unsere Schüler:innen langsamer als früher? Sind drei Sekunden Nachdenkzeit zu wenig? Müssen die Schüler:innen sich überlegen, in welche Richtung sie antworten? Was könnte die Meinung der Lehrperson sein? Was möchte die Lehrperson hören? Was sorgt für eine positive Note, ein Mitarbeitsplus? Stimmt die erwartete Meinung mit meiner Meinung überein? Wie formuliere ich meine (abweichende) Meinung? Möchte ich in meiner Meinung und meiner Rolle der Lehrperson gefallen? Möchte ich der Peer Group gefallen? Wem will ich gefallen und will ich überhaupt gefallen? In welche Richtung antworte ich? Wo bekomme ich mehr Likes? Haben Schüler:innen Angst davor, etwas zu sagen, weil das Gesagte ohne Filter auskommen muss? „Was liegt, des pickt“, sagt man so schön. Worte können nicht mehr zurückgenommen werden. Das Gesagte kann nachträglich nicht mehr bearbeitet werden. Haben Schüler:innen Angst, dass das Klassenzimmer kein abgeschlossener Raum ist, sondern dass Aussagen in Sekundenschnelle mit nur einem Klick „in die Welt getragen werden“ können? Sie könnten beispielsweise als Meme enden und davor könnten sie auch Angst haben. Wäre es nicht toll, wenn man Fragen wegwischen könnte, bis man ein Match statt einer bösen Überraschung erwischt?

Sind das Fragen, die sich Schüler:innen stellen oder sind das Fragen, die sich Lehrer:innen stellen?

Das Ich stärken

Die Fortbildung war tatsächlich eine, die bei mir als Referentin viele Fragen aufgetan hat. Ich ging mit vielen Gedanken und offenen Fragen aus den 90 Minuten. Und auch wenn ich drüber nachdenke, habe ich keine Antworten. Man müsste hier mit Schüler:innen sprechen und sie nach ihrer Sicht der Dinge fragen. Das ist klar.

Mein Fazit der Veranstaltung, in der es um Body Shaming, Körperdysmorphe Störungen und Body Positivity ebenso wie um Filter und Stilisierungen und die Boyfriends of Instagram ging, ist jedoch ein recht einfaches: Das Ich muss entdeckt, (vielleicht) ausgegraben und gestärkt werden. Jeder Mensch ist anders – Andreas Reckwitz hält das in Die Gesellschaft der Singularitäten fest, Christoph Kucklick kommt in Die granulare Gesellschaft zu einem ähnlichen Schluss und auch bei Felix Stalder und seiner Kultur der Digitalität lesen wir Ähnliches. Wenn wir nun aber in einer Welt der Beschleunigung (Hartmut Rosas gleichnamiges Werk ist eine absolute Leseempfehlung) überleben wollen und sich um uns herum alles ändert. Was ist dann unsere Konstante? Das Leben ist beschleunigt. Die Welt ist „kleiner“ geworden. Ruhe, Nichtstun und Müßiggang werden mit einem Warum? hinterfragt. Faulheit ist nicht verkehrt. Müßiggang ebenfalls nicht. Wieso finden sich so viele Bücher und Ratgeber und Blogposts und Videos zum Thema Resilienz, Selbstwirksamkeit, Body Positivity und Body Shaming aktuell?

Warum sind Seiten wie Visual Statements, WordPorn oder Lieblingsmensch mit ihren positiven, das Ich stärkenden Aussagen und Sprüchen auf Social Media so beliebt? Was uns in einer Welt der unterschiedlichen und sich immer schneller abwechselnden Rollen – und wir alle spielen Theater, wie schon Erving Goffman in den 1950ern feststellte – bleibt, ist das Ich. Auf das wir zu selten hören. Für das wir uns zu selten Zeit nehmen. Wer bin ich und wenn ja wie viele? Eine gute Frage, die jede:r für sich selbst beantworten sollte. Die Jugend unterscheidet schon längst nicht mehr zwischen dem Ich auf Social Media und dem Ich in einer realen Welt. Beide Welten sind gleich real. Die Rollen, die in den verschiedenen parallelen Realitäten übernommen oder gespielt (ohne negative Wortbedeutung) werden, können unterschiedlich sein. Die Positivkultur der Emotionen in einer Gesellschaft der Singularitäten (Andreas Reckwitz) steht neben einer Welt der Referentialität (Felix Stalder) und ohne Original (siehe auch @insta_repeat). Legen wir die Maske (aka den Filter) mal ab und suchen wir das Original – spannend, dass mir just nach der Veranstaltung Facebook dieses Video in die Timeline gespielt hat (da hat wohl jemand mitgehört).

Der eine oder die andere empfindet einen Anruf oder eine direkte Ansprache vielleicht als Eindringen in die Privatsphäre. Dies zu reflektieren und sich seiner eigenen Stärken und Schwächen bewusst zu sein, frei nach Leibniz das Beste beider (aller) Realitäten (nicht mehr Welten) zu leben, dort die Freiheit zu finden ist ein Ziel. Das können wir erreichen, in dem wir den Schüler:innen den Raum für ihre Expertise (ob eSports, Schminktutorial oder Bananenbrot) geben, denn so kann man ihr Selbstwertgefühl und gleichzeitig ihren Charakter stärken. Dafür müssen wir aber auch den Raum schaffen, in sich hineinzuhören, nicht immer auf 180 zu fahren und sein Ich zu überdenken. Und dann vielleicht auch den Umgang mit anderen (Study evaluates how „me time“ affects social interactions).

Quelle: Pixabay

Haben wir diese Zeit? Das ist wohl die falsche Frage. Nehmen wir uns die Zeit! Das ist die richtige Antwort. Obwohl ich nach dieser Fortbildung noch viele offene Fragen habe. Dies ist eine sichere Antwort.

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