Ende des 18. Jahrhunderts schrieb Friedrich Schiller im 6. Brief seiner Abhandlung Über die ästhetische Erziehung des Menschen:
„Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus; ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft.“
https://gutenberg.spiegel.de/buch/-3341/7
Dabei meinte er die Fragmentarisierung des Menschen, der in eine Gesellschaft eingebunden ist, die sich funktional ausdifferenziert, in der Menschen unterschiedliche Funktionen und Aufgaben übernehmen und dabei verschiedene Rollen spielen. Der Mensch ist nicht mehr in eine gottgewollte Ordnung, sondern in einen Staat eingebunden. Er ist Lehrer und bleibt dennoch Schüler, er ist wirtschaftlich Agierender und an Kunst Interessierter. Er ist nicht mehr EINS sondern VIELE. Etwas mehr als 100 Jahre später schrieb Luigi Pirandello seinen Roman Uno, nessuno e centomila und greift schon im Titel die Identifikationsproblematik auf. Wer sind wir? Sind wir eine? Vielleicht keine? Oder sogar 100.000, gemeint: Persönlichkeiten?
Vieles von dem, was wir heute sind oder zu glauben meinen, sind wir aufgrund unserer digitalen Persönlichkeit, unserem Auftreten in sozialen Netzwerken und auf sozialen Plattformen. Und es tut manchmal gut, sich selbst zu googlen, Egosurfing im Sinne eines Reputations-Managements zu machen, wie auf Wikipedia so schön nachzulesen ist. Oder aber sich bewusst die Zeit dafür zu nehmen, zu überlegen, wie die eigenen Social Media-Beiträge aussehen, wie sie gelesen und somit aufgenommen werden könnten. Einen derartigen Beitrag als Inspiration für mich, den vorliegenden Beitrag zu schreiben, lieferte Bob Blume (@legereaude) in seinem sehr persönlichen Blogbeitrag Mein Twitter, in dem er seine unterschiedlichen Rollen und Funktionen auf Twitter analysierte und systematisch betrachtete. Ein schöner Beitrag, der die verschiedenen Facetten des Meisters des Aphorismus, als den ich ihn empfinde, offenlegt.
Jetzt bin ich zugegebenermaßen keine so vielschichtige Nutzerin eines Social Media-Kanals, sondern verlagere meine Aktivitäten auf unterschiedliche Kanäle aus. Und ja, das sind so einige. Und ich bin prinzipiell auch mit meinem vollen Namen zu finden, denn ich achte auf meine Social-Media-Präsenz, zumindest glaube oder hoffe ich das. Hier aber zu meinen unterschiedlichen Präsenzen oder Identitäten, die mein virtuelles ICH ausmachen:
- Facebook ist meine semiprivate Spielwiese, auf der ich sowohl Privates als auch Fachlich-Dienstliches teile. Dabei überlege ich immer genau, was ich schreibe, teile und kommentiere, denn der Feind liest bekanntlich mit 😉 Die Facebook-Gemeinde ist sehr groß, man weiß, wer mitlesen kann (Freunde, Freunde von Freunden oder die Welt) oder zumindest glaubt man, es zu wissen. Ein privates und fachliches Netzwerk konnte ich mir aufbauen, viele Freunde und Freundinnen aus Kindheits- und Jugendtagen tummeln sich dort ebenso. Man bleibt eben, getreu dem Motto des Anbieters, in Kontakt.
- Pinterest ist meine private Spielwiese. Ich sammle hier alles, was mein Hobby-Herz begehrt: Rezepte, Kreatives, Weihnachtszeugs… Und zurzeit auch so einiges zum Thema Recycling, Upcycling und Restl-Verwertung (gegen Foodwaste) – also Ideen, um mit den uns vorhandenen Ressourcen verantwortungsbewusst umzugehen.
- Google+ ist eine interessante Spielwiese, denn hier kann ich mit Facebook-Verweigerern in Kontakt bleiben, fand aber auch gerade in den Communitys, wie Martin Lindners (@martinlindner) Digitale Bildung, eine Möglichkeit des fachlichen Austausches, für die ich sehr dankbar bin.
- YouTube ist eine eigene Spielwiese, denn lange Zeit nutzte ich die Videoplattform einfach so. Ich folgte und abonnierte, aber alles in allem war ich mehr Consumer als Producer. Das änderte sich insofern, als ich zwischenzeitlich Haus baute und über YouTube eine Möglichkeit fand, die Fortschritte all jenen zugänglich zu machen, die sich dafür interessierten.
- Blogger ist eine zeitintensive Spielwiese, denn hier teile ich mich fachlich mit. Der gerade geöffnete Blog Web 2.0 in Lehre und Unterricht, ist nur einer von mehreren, so pflegte ich zum Beispiel letzten Advent einen Keks-Adventkalender für meine Familie sowie Freudinnen und Freunde, die mich immer nach meinen Keks-Rezepten gefragt hatten. Auch für meine Dissertation hatte ich einen eigenen Blog, der aber mittlerweile stillgelegt ist. Er war für mich eine Möglichkeit, ortsunabhängig zu arbeiten und zu schreiben. Und der eine oder andere Blog steckt auch noch in Vorbereitung. Da kommt also heuer noch was. 😉
- Scoop.it ist eine fachliche Spielwiese. Hier pflege ich fünf verschiedene Themenbereiche, die mich fachlich interessieren und für mich fachlich relevant sind, u. a. E-Learning Methodology, All about (M)OOCs & OER oder (Language) Learning and Teaching with new technologies. Gerade den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen aus unterschiedlichen Bereichen schätze ich auf dieser Content-Curation-Plattform sehr.
- XING und LinkedIn sind meine professionelle Spielwiese. Ich nutze beide Plattformen eher weniger aktiv, befülle, aktualisiere und vernetze. Es ist jedoch ziemlich spannend, wie schnell hier die Vernetzung läuft.
- Researchgate ist meine Publikations-Spielwiese. Ich weiß nicht mehr, wie ich dazu kam, aber jetzt bin ich auch auf Researchgate und versuche auch dort, mein Profil aktuell zu halten und Publikationen einzupflegen und zu aktualisieren. Gerade wenn man publiziert, ist diese Plattform – sagen wir – praktisch, weil man zu unterschiedlichen Publikationen und mit den Autorinnen und Autoren in Kontakt kommt. Ich schätze es sehr, mich direkt an Autorinnen und Autoren wenden zu können, wenn (wissenschaftliche) Fragen entstehen.
- Ähnliches gilt für Google Scholar.
- Slideshare ist meine Präsentations-Spielwiese. Ich habe hier zwar einen eigenen Account, bespiele aber häufig den Account der Akademie für Neue Medien und Wissenstransfer mit meinen Präsentationen, gerade dann, wenn sie aus dem beruflichen Kontext stammen.
- Twitter (@lacknere) ist meine liebgewordene Spielwiese. Lange Zeit war Twitter als rein beruflich genutzte Plattform so etwas wie ein Stiefkind unter meinen Profilen. Ich twitterte von Tagungen und retweetete sehr viel. Gut, das tu ich jetzt auch noch. Nun wird mir Twitter aber immer mehr zu einer liebgewonnenen Plattform, die über das Berufliche hinausgeht. Gerade die Dienstagabende und der #EDchatDE rund um André J. Spang (@tastenspieler), Torsten Larbig (@herrlarbig) und Peter Ringeisen (@vilsrip) spielen dabei eine wichtige Rolle. Ich will jetzt niemanden besonders hervorheben, viel zu vielzählig sind die Netzwerke, die sich da in letzter Zeit aufgebaut haben. Aber gerade das „heimliche“ Tratschen auf Tagungen (mit oder ohne Hashtag, also mehr oder weniger offiziell) mit Sophie Lenz (@umirom) und Christian Freisleben-Teutscher (@cfreisleben) zum Beispiel ist so nur auf Twitter möglich, auch wenn die Beschränkung auf 140 Zeichen manchmal richtig fies ist. Und auch mein Sprach- und Literaturliebhaberinnen-Herz schlägt auf Twitter dank Bob Blume (@legereaude – der Name ist Programm), Olle_Ziege (@Olle_Ziege – ist der Name Programm?) oder Lisa Blue © (@lisablueair) höher. Jeden Freitag erfreut mich Sandra Schön (@sandra_schoen) auf Twitter schon in der Früh mit ihrem #Lieblingswort der Woche, gemeint ihr liebstes Wort im Österreichischen. Und auf Fernsehen kann ich verzichten, denn die Twitter-Community hält mich sicherlich am Laufenden. Ähnliches betrifft Tagungen, bei denen ich nicht dabei sein kann. Ich folge einfach dem Hashtag und diskutiere im virtuellen Tagungsraum mit.
Social Media sind für mich ein virtueller Lebens- und Lernraum, in dem das Innere nach außen gekehrt wird und das Äußere in den Hintergrund rückt. Es ist eine große Freude, die virtuelle Community auch in der realen Welt kennenzulernen und umgekehrt. Denn immer wieder wird man auf der einen oder anderen Seite überrascht. Und das macht für mich auch den Reiz sozialer Netzwerke aus. Wie man sich bettet, so liegt man. Wie man sich gibt, so lebt man. Oder so ähnlich.
PS: Eine weitere Motivation, diesen Beitrag zu schreiben, liegt übrigens natürlich auch im Umstand begründet, dass ich in diesem Semester eine Lehrveranstaltung zu Social Media halte und zurzeit auch der MOOC „Soziale Medien & Schule: für wen, wieso, wozu?“ auf iMooX läuft, der unterschiedliche Aspekte des Themas beleuchtet und an so manchen Stellen für das gewisse „AHA-Erlebnis“ sorgt.