Wie oft hat man schon den Satz gehört: Ich tu mir beim Sprachenlernen total schwer. Ich hab einfach kein Talent. Nun, was ist Talent? Und haben wir alle ein bestimmtes Talent?
Die Frage nach dem Talent haben wir uns doch schon öfters gestellt oder? Haben Sie sich nicht schon mal gefragt, was Ihr Talent ist und wie man Talente fördern kann? Gerade im kreativen Bereich, wie der Musik oder der Kunst, wird gerne von Talenten gesprochen. Auch auf der Ebene „Buben können A besser und Mädchen B“ wird von einem weiten Talentbegriff ausgegangen.
Vom Scheitern, eine Definition zu finden
De Bruyckere et al. (2020: 99f.) versuchen in ihrem Beitrag, zunächst eine Definition dessen abzugeben, was man wirklich als Talent bezeichnet und sich der Frage zu nähern, ob es so etwas wie Talent überhaupt gibt. Sie führen dabei unterschiedliche Zugänge an, beispielsweise dass jede*r ein Talent habe, man es nur entwickeln müsse und stellen die Frage, was passiere, wenn man ein Talent nicht entwickelt – es also vergeudet. Schnell kommen sie zum Schluss:
“Even scientists cannot agree what it is!”
(De Bruyckere et al. 2020: 100)
Jede*r von uns hat ein sehr subjektives Verständnis dessen, was man unter Talent versteht. Eine einheitliche Definition ist schwierig, wenngleich im Duden beispielsweise eine Definition zu finden ist. Eine sehr oberflächliche Definition könnte jedoch lauten,
„that having a talent means that someone does something or shows something that is regarded as being better than that which others do or show.”
(ebd.)
Diese Definition, und das zeigen auch die Autoren, wirft jedoch mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Wie lässt sich „better“ definieren? Wie lässt es sich messen? Woran lässt es sich messen? Wie viele Personen müssen in der Kontrollgruppe sein? Wie wird die Kontrollgruppe ausgewählt – also in Gegensatz zu wem müssen wir was um wie viel „better“ können, damit es als Talent gewertet wird? Die Autoren führen mit Verweis auf Sligte et al. (2009) zahlreiche weitere Fragen an, die an diese Definition gestellt werden können. Haben wir ein Talent oder mehrere? Mit welchen Methoden und Messstärken wird es gemessen? Worin, wodurch oder wie manifestiert sich das Talent überhaupt?
Schließlich stellt sich auch die Frage, warum ein Talent überhaupt gefunden werden muss? Stecken dahinter soziale oder kulturelle Gründe oder worin liegt der Mehrwert genau? Würde das gezielte Identifizieren von Talenten nicht eine Elite entweder begründen oder erhalten? Ist dieses Suchen nicht ein Symptom der leistungsorientierten Gesellschaft, in der wir uns befinden? Die Autoren landen abschließend bei der grundlegenden Frage „on the old discussion between nature (innate talents) and nuture (learned or acquired talents).“ (De Bruyckere et al. 2020: 101) Können wir ein Talent erlernen oder ist es uns angeboren?
Weitere abzugrenzende Begrifflichkeiten
Um das begriffliche Chaos perfekt zu machen und die Schwierigkeit aufzuzeigen, im Talentebereich wirklich eindeutig zu sein, führen die Autoren mit Stärke und Intelligenz noch zwei weitere Begriffe ins Feld. Wobei sie bei den Stärken die Frage stellen, ob wir unsere Stärken durch gezieltes Training fördern bzw. eben stärken können und jede*r von uns spezifische Stärken habe. Sind sie etwas Angeborenes oder Erlerntes? Was die Intelligenzen betrifft, verweisen Sie auf Gardners Modell der Multiple Intelligences, die uns in den beiden Büchern, also De Bruyckere et al. (2015, 2020) mehrfach begegnen.
Sie betonen, dass diese Multiple Intelligences oftmals in die Diskussion um Talente eingebracht werden (was jedoch ihres Erachtens nicht im Sinne Gardners sei) und dass hier vor allem auch zwischen Talenten und Skills zu unterscheiden sei. Skills ließen sich demnach entwickeln und seien nicht angeboren. Eine Lösung bleiben die Autoren schuldig, sie schließen mit folgendem Satz:
“At the same time, this (d.h. die Diskussion von angeboren vs. erlernt) also brings us back to the age-old question: is it possible to become anything they want through training and hard work alone?”
(De Bruyckere et al. 2020: 102)
Kann jede*r wirklich alles, wenn nur hart genug daran gearbeitet wird? Wir stellen uns hierbei die Frage, ob diese Aussage auf den kognitiven und den motorischen Bereich zutrifft. Kann man z.B. eine körperliche Schwäche durch besonderes Training ausgleichen? Beispiele gibt es hierfür sicherlich genügend, hier sei eines genannt:
Handelt es sich hierbei dann um Talent oder um Ehrgeiz, Strebsamkeit und Konsequenz?
Die Frage nach der Leidenschaft
Ihre praktischen Überlegungen führen De Bruyckere et al. (2020: 102) in die Welt der Leidenschaft:
The advice ‚Follow your passion’ is often given on the basis of the assumption that the things you like to do, you will do better and for longer. It’s sometimes suggested that passion is the same as talent although there are enough talent shows on television (of the ‘Idol’ variety) to show that this is not necessarily the case.
Ein Schmunzeln gleitet über das Gesicht, wenn man an die vielen gescheiterten vermeintlichen Talente denkt, die einfach ihre Leidenschaft ausleben und dabei nicht unbedingt erfolgreich sind.
Aber sie tun das, was ihnen Spaß macht. Ist das verwerflich? Geht es um das „Follow your passion“ oder das „Develop your passion“ (ebd.: 103)? Eine spannende Frage zum Abschluss eine Mythos, den die Autoren als unproven kategorisieren. Wissenschaftliche Hinweise auf das Talent gibt es demnach nicht, im Nahfeld gibt es jedoch – wie die Autoren auch zeigen – zahlreiche evidenzbasierte Erkenntnisse.
Und nun?
Für die Lehre und das Lernen lassen sich hieraus zahlreiche Überlegungen ableiten, die keine eindeutigen Antworten nach sich ziehen. So gilt beispielsweise, dass wir, wenn wir gut darin sind, etwas zu tun, dies nicht unbedingt gerne tun müssen und umgekehrt. Wie sieht es mit Menschen aus, die ihr Talent erst spät entdecken, da sie vielleicht erst in einem gesetzten Alter die sozioökonomischen Möglichkeiten oder persönlichen Freiheiten haben, eine Stärke oder Passion auszuleben? Handelt es sich dann hierbei um ein Talent? Was löst das Bewusstsein um ein Talent aus? Die Möglichkeiten, sich selbst zu entdecken? Haben wir in unserer leistungsorientierten Zeit überhaupt die persönlichen, zeitlichen oder finanziellen Ressourcen, uns kennenzulernen und unsere Stärken und Schwächen zu analysieren? Wer sagt uns, wonach wir suchen müssen? Und führt nicht diese Förderung potentieller Talente dazu, dass Kinder heutzutage nicht mehr Kinder sein dürfen, sondern bereits einen eng getakteten Terminplan haben, um Stärken zu erkennen und fördern?
Performanz vs. Kompetenz
Beim Lesen des Abschnitts ist man geneigt, an die Diskussion über Performanz und Kompetenz zu denken. Manifestiert sich ein Talent nicht auch in Performanzen, die Rückschlüssen auf das Talent zulassen? Worin unterscheiden sich eigentlich Talent und Kompetenzen? Oder Talent und Fertigkeit? Marchel Hirscher wird oftmals als Talent bezeichnet. Ist er nicht aber eigentlich jemand, der hart, fokussiert und vor allem konsequent über Jahre an sich gearbeitet hat, um an die Weltspitze zu gelangen und vor allem auch jahrelang dort zu bleiben?
Faule Ausreden?
Vielleicht ist die Talentefrage vielfach auch einfach eine bequeme Ausrede dafür, sein eigenes Scheitern zu rechtfertigen. Ich kann das nicht. Ich hab kein Talent dafür? Um etwas zu lernen, muss man vielleicht etwas investieren (Zeit, Kraft, Gedanken usw.). Lernen ist nicht immer einfach, es kann und darf auch richtig anstrengend sein. Und nicht alles, was man im Leben lernt, macht auch Spaß. Vielleicht nutzen wir Talent und Stärke als Ausrede dafür, uns nicht mit unseren Schwächen zu beschäftigen.
Und vielleicht haben wir – wie auch De Bruyckere et al. (2020) – diesen Beitrag bewusst offen gestaltet, um Gedankenprozesse anzuregen, da wir eindeutige Antworten schuldig bleiben müssen.
Quelle
- De Bruyckere, Pedro; Kirschner, Paul A. & Hulshof, Casper D. (2015). „Myths about Learning. Myth 9: In Education, You Need to Take Accout of Different Types of Intelligence“, in: dies. (Hg.), Urban Myths about Learning and Education. Amsterdam et al.: Elsevier: 63-69.
- De Bruyckere, Pedro; Kirschner, Paul A. & Hulshof, Casper D. (2020). “Myths about (Educational) Psychology: Develop your talent!”, in: dies. (Hg.), More Urban Myths about Learning and Education. Challenging Eduquacks, Extraordinary Claims, and Alternative Facts. New York: Routledge: 99-104.