Mythenkalender #24: 21st Century Skills

Wie bitte? Steht im Titel tatsächlich 21st Century Skills? Das kann nur ein Missverständnis sein, oder? Wer könnte es wagen zu behaupten, noch dazu öffentlich, kritisches Denken, Kommunikation, Kollaboration und Kreativität seien Mythen?

Heute ist in deutschsprachigen Ländern der Heilige Abend, eine der wichtigsten Raunächte, in denen auch Tiere zu sprechen beginnen und sich die Wilde Jagd herumtreibt. Wir wollen es wagen und heute die 21st Century Skills kritisch betrachten, obwohl diese in so manchen Netzwerken längst etabliert und/oder akzeptiert sind und in Publikationen gerne als Legitimierung für quasi alles herangezogen werden.

Was sind diese 21st Century Skills?

„It‘s very hard to talk about something, that doesn’t really exists.“

(Kirschner, 2019)

So drastisch formuliert es einer der Autoren von Urban Myths und More Urban Myths in einem Vortrag zu den 21st Century Skills:

Quelle: YouTube

Wie kommt Paul Kirschner, mittlerweile emeritierter Professor für Pädagogische Psychologie (Educational Psychology), zu dieser Aussage? Es gibt unzählige Definitionen, Modelle und wunderschön anzusehende Grafiken, die uns mit ebenso vielen „Skills“ konfrontieren, die nun im 21. Jahrhundert für alle Lernenden ganz zentral sein sollen. Ein paar Beispiele:

Wer gar nicht genug davon bekommt, kann sich das Werk von Fadel, Bialik und Trilling (2015) ansehen. Dort findet sich noch eine längere Liste, nur dass die Autor*innen in ihrem Werk (natürlich) alle „Skills“ zusammenführen. Das Werk Die 4 Dimensionen der Bildung (deutsche Version erschienen im Verlag „Zentralstelle für Lernen und Lehren im 21. Jahrhundert e.V.“) ist ähnlich wie NLP (#21) einzuschätzen: Eine wilde Ansammlung von unterschiedlichen Theorien, Modellen, Grafiken (wir verzichten auf eine Auswahl) und Ideen, die meist schlicht auf den Gedanken der Autor*innen beruhen. Oder vielleicht doch auf den Zielen ihrer Auftraggeber*innen?

Quelle: Pixabay

Wikipedia ist hier tatsächlich die beste Quelle, heißt es doch gleich im ersten Satz:

 „21st century skills comprise skillsabilities, and learning dispositions that have been identified as being required for success in 21st century society and workplaces by educators, business leaders, academics, and governmental agencies.“

Wikipedia

Was sind nun 21st Century Skills?

Skills? Abilities? Learning Dispositions? Es scheint, als wüssten es nicht mal jene, die Definitionen zu den 21st Century Skills formulieren. Und seien wir uns ehrlich: Auch im Deutschen sind Kompetenzen, Fähigkeiten, Fertigkeiten beinahe synonym verwendete Begriffe, die ihrerseits einer Betrachtung bedürfen. Alicia Bankhofer (2019) hat für das Englische eine Verortung unternommen, für das Deutsche stellt eine neutrale Betrachtung ein Desiderat dar, das diese Begriffe (endlich) operationalisiert (hier ein nicht-wissenschaftlicher Versuch).

De Bruyckere, Kirschner und Hulshof (2020, S. 24) kommen zu dem Schluss, dass viele der sogenannten „Skills“, also Kompetenzen oder Kompetenzbündel, gar keine solchen sind. Eher kann man viele der in den Modellen beschriebenen Fähigkeiten als menschliche Wesenszüge oder auch Persönlichkeitseigenschaften bezeichnen. Und diese können nicht erlernt oder vermittelt werden.

Andere 21st Century Skills können als allgemeine Kenntnisse oder Fertigkeiten (generic skills) angesehen werden, etwa das Problemlösen. Solche allgemeinen Kenntnisse oder Fertigkeiten lassen sich nicht losgelöst von domänen-spezifischem Wissen erlernen oder anwenden. Das heißt, wenn wir Lernenden das Lösen von Problemen näherbringen wollen, brauchen sie dazu Wissen aus einem bestimmten Fachbereich. Ist viel Wissen vorhanden, steigt auch die Chance, die nächste Lernaufgabe schneller oder anders zu lösen, also bereits vorhandenes Wissen auf andere Aufgaben zu transferieren. Als Beispiel führen De Bruyckere et al. (2020, S. 25) „Lernen lernen“ an. Es hat sich gezeigt, dass ein allgemeines Fach über das Lernen keine nennenswerten Effekte auf den Lernerfolg in anderen Fächern hat.

Worum es wirklich geht…

Die Diskussion und Idee der 21st Century Skills beruht auf den im Rahmen dieses Mythenkalenders schon oft vorgetragenen subjektiven Empfindungen, dass sich unsere Inhalte, die Vermittlung und ganz grundsätzlich unser Bildungssystem verändern muss (auszugsweise #11, #12, #15, #16, #17 und #19 – in den beiden Büchern Urban Myths und More Urban Myths noch viel mehr).

Wir alle unterliegen dem Phänomen des Chronozentrismus, glauben also, dass unsere aktuelle Gegenwart etwas ganz Besonderes sei. Wir müssen alles verändern, weil sich jetzt, zum Zeitpunkt unseres Daseins, auch alles verändert. Wir sind besonders und daher brauchen wir besondere Herangehensweisen (siehe dazu auch Reckwitz 2019), wir müssen etwas anders machen als die vor uns.

Nun, es besteht tatsächlich der Bedarf danach, manche Dinge grundsätzlich anders zu machen. Kirschner (2019) bezeichnet diese als die wahren 21st Century Skills:

  • Information Literacy
  • Information Management

Kreativität, Kollaboration, Kommunikation und das Lösen von spezifischen Problemen oder Anforderungen, sind so alt wie die Menschheit selbst. Viele der 21st Century Skills sind also gar nicht so neu.

Was nun?

Sind die 21st Century Skills ein Mythos? Ja und Nein lautet die Antwort. Bei De Bruyckere et al. (2020, S. 26) wird der Begriff Nuanced verwendet. Wir brauchen also noch mehr Forschung, vor allem dazu, ob wir Menschen grundsätzliche Fähigkeiten und Kenntnisse überhaupt erlernen können (siehe auch #23). Der jetzige Stand der Forschung  lautet: Wir brauchen Wissen für bestimmte Themen und Fachbereiche, können dann Fähigkeiten und Fertigkeiten dazu entwickeln und schlussendlich performen, also anwenden und auch manchmal das Gelernte auf andere Aufgaben transferieren.

Wir wissen also noch zu wenig über die 21st Century Skills, vielleicht ist es demnach auch gut, ganze Bücher auf der Basis dieser zu schreiben und somit einen Teil zur Forschung beizutragen. Wichtig wäre dabei jedoch, auch auf bereits geführte Diskussionen einzugehen. Wir fanden bei Google Scholar Recherchen für den Suchstring „21st century skills AND education AND technology“, Publikationen seit 2015 17.300 Ergebnisse (0,09 Sek.), für den Suchstring „21st century skills AND digital education“, Publikationen seit 2015 16.700 Ergebnisse (0,15 Sek.) und immerhin auf pedocs.de mit Suchfilter „deutsch“ 113 Ergebnisse. Man kann also nicht behaupten, es gäbe noch nichts zum Thema 21st Century Skills.

Und ja, jede*r kann im Klassenzimmer und Seminarraum etwas tun, damit sich die in den Modellen beschriebenen Persönlichkeitsmerkmale zeigen oder vielleicht sogar entwickeln können. Als Lehrende müssen wir Lernräume schaffen, die unseren Schüler*innen und Studierenden aus psychologischer Sicht das Gefühl von Sicherheit vermitteln. In solchen Lernsituationen dürfen Meinungen frei geäußert werden, Diskussionen geführt, auch noch so abstruse Ideen vorgetragen werden, ohne Angst vor schlechten Noten oder Beleidigungen durch Mitlernende oder gar Lehrende haben zu müssen (De Bruyckere et al., 2020, S. 24).

Ein unschönes Weihnachtsgeschenk?

Auch uns fiel das Akzeptieren dieser hier zusammengefassten Erkenntnisse zu den 21st Century Skills alles andere als leicht. Beide haben wir immer wieder mit den 4K, 4C oder anderen Varianten dieser Idee in Publikationen und Vorträgen argumentiert (auch hier am Blog).

Wir mussten akzeptieren, die 21st Century Skills sind, so wie Rotherham und Willingham (2010, S. 18) schreiben, eine Bewegung. Wie wir wissen, funktionieren Bewegungen aktuell sehr gut, werden doch auch aus etablierten Parteien unter neuer Führung moderne Bewegungen.

So wird dann auch aus dem extrovertierten CEO eines Multi-Milliarden Unternehmens ein gern zitierter Bildungs-Guru:

Quelle: YouTube

Unser kritisches Denken sagt uns dazu: Lieber auf Vertreter*innen der Bildungswissenschaften zurückgreifen. 

Wir denken, es gibt auch ohne Bezug auf die 21st Century Skills genügend Gründe, warum wir Technologien im Unterricht für das Lehren und Lernen einsetzen oder unseren Unterricht bzw. die Lehre neu denken sollten. Und auch das Lernen über Medien ist keine Frage der Einstellung, sondern der Verantwortung gegenüber unseren Lernenden.

Quelle: Pixabay

In diesem Sinne wünschen wir Ihnen und euch ein kritisches Nachdenken über die von uns aufgezählten Lernmythen in den Feiertagen, kommunikative Weihnachsfeierlichkeiten, gutes Gelingen beim kollaborativen Tonhalten der gesungenen Weihnachtslieder und natürlich kreative Packerl.

„21st Century Skills. Not New, but a Worthy Challenge.“

Rotherham und Willingham, 2010

Quellen

  • Bankhofer, A. (2019). „Navigating Literacies, Competencies and Skills – Educational Ground Zero“, in: E. Höfler, & J. Wagner (Hg.). Sprachunterricht 2.0. Neue Praxisbeispiele aus Schule und Hochschule, Glückstadt: vwh, 12-18
  • De Bruyckere, P.; Kirschner, P. A. & Hulshof, C. D. (2020). “Myths about the ‚What‘: Is There Any Such Thing as ’21st-Century Skills‘?”, in: dies. (Hg.), More Urban Myths about Learning and Education. Challenging Eduquacks, Extraordinary Claims, and Alternative Facts. New York: Routledge, 21-26.
  • Fadel, C., Bialik, M., & Trilling, B. (2015). Four-Dimensional Education.
  • Kirschner, P. A. (2019). 21st Century Skills. Online.
  • Reckwitz, A. (2019). Die Gesellschaft der Singularitäten. Berlin: Suhrkamp.
  • Rotherham, A., & Willingham, D. T. (2010). „21st Century Skills“. Not New but a Worthy Challenge. American Educator, 17–20. Online.

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