Die Halbwertszeit des Wissens verringert sich zunehmend, wir können nicht mehr alles wissen, wir müssen aber wissen, wo wir was finden, wenn wir es suchen. Echt jetzt?
Okay, ich gestehe. So oder so ähnlich habe ich sicherlich auch schon mal gedacht und es in meinen frühen Jahren auch so geschrieben und gesagt. Aber Fakt ist, dass nicht die Halbwertszeit des Wissens geringer wird, sondern die Produktion von Wissen stark zugenommen hat. Das Wissen hat somit nicht weniger Wert oder ist irgendwann obsolet, es wächst ständig an. Jede*r kann heutzutage Inhalte produzieren und über das Internet distribuieren. Jede*r kann somit Informationen generieren und andere an ihrem Wissen (oder Nicht-Wissen) teilhaben lassen. Deswegen wird das Wissen des anderen nicht weniger wert oder unbrauchbar. Schön übrigens in diesem Schaubild dargestellt.
Um das zu verstehen, sollten wir uns mit De Bruyckere et al. (2015) [1] eine Sache vor Augen führen: Das von uns in der Kindheit und Jugend erworbene Wissen ist nicht obsolet, sondern wird ergänzt – man denke an den Satz des Pythagoras, die Notenlehre, geschichtliche Daten („753, Rom schlüpft aus dem Ei.“) und vieles mehr. Sicherlich werden Informationen adaptiert. Pluto zum Beispiel. Sie denken an einen orangefarbenen Hund. Okay. Ich meine den Nicht-mehr-Planeten… Wenn da nicht noch auch die Gottheit wär…
Daten ungleich Information ungleich Wissen
Eines ist sowieso augenscheinlich: Ein Fehler in der Diktion, dem auch De Bruyckere et al. (2015) aufsitzen. Vielleicht kann man ja Daten und Fakten synonym verwenden, nicht aber Information und schon gar nicht Wissen. In der heutigen Gesellschaft werden ständig neue Daten produziert, die – sobald sie kontextualisiert werden – einen Informationscharakter bekommen.
So kann ich die Zahl 42 nennen und viele werden sich denken: Schöne Zahl! Der/die buchaffine Filmkenner*in wird sagen: Ja, die Antwort auf alle Fragen.
Der die Urheberrechtsexpert*in wird vielleicht mit den Augen rollen – §42 UrhG ist gerade für uns Lehrende sehr zentral. Der Kontext, in den wir die Zahl setzen, macht aus ihr eine Information. Und ganz vereinfacht ausgedrückt: Integriere ich diese Information in mein Denk- oder Wertesystem, dann spricht man von Wissen.
Hierfür ist aber wichtig, diese Information an das vorhandene Vorwissen anzuknüpfen. Die Rolle des Wissens haben wir gestern ja bereits behandelt und sind zum Schluss gekommen, dass Faktenwissen nach wie vor wichtig ist, dass in der heutigen Zeit aber auch weitere Kompetenzen notwendig sind, wie beispielsweise sich in der Masse an Daten zurechtzufinden, Informationen – also kontextualisierte Daten – zu suchen, finden und abzuspeichern, auf ihren Wahrheitsgehalt und auch ihre Relevanz und Aktualität zu überprüfen und vieles mehr, das unter dem Begriff Digital oder Information Literacy subsumiert wird.
Ist das Thema wirklich aktuell?
- Die Twittersuche zu Halbwertszeit liefert Beispiele aus unterschiedlichen Bereichen – der Begriff scheint sehr beliebt zu sein.
- Halbwertszeit des Wissens – was ist das und wen betrifft es? Dieser Beitrag zeigt in einer Graphik ganz deutlich, dass Wissensbereiche eine Rolle spielen – je spezifischer der Bereich und je weiter er sich von der Allgemeinbildung entfernt, umso geringer ist angeblich die Halbwertszeit – wir wissen nun, dass in diesen Bereich die Informationsdichte rasant höher wird.
- Lebenslanges Lernen: „Die Halbwertszeit von Wissen sinkt wahnsinnig“: Reißerischer Titel, der auf die Bedeutung von lebenslangem Lernen hinweist. Aber sonst…
- Nachdem die österreichische Kronen Zeitung darüber berichtet hat, ist der Mythos sicherlich nicht unverbreiteter als davor… Gerade auch bei Menschen, die nur Überschriften lesen. Der Standard berichtet schon 2001 darüber. Die Überschrift ist die gleiche…
- Die Halbwertszeit des Wissens: Schöne Beispiele liefert dieser Beitrag, der sich auch mit dem Phänomen Halbwissen beschäftigt.
- Dass die Sache mit der Halbwertszeit des Wissens ein Mythos ist, hat auch Ulrich Walter bereits 2013 im gleichnamigen Artikel in Die Welt betont.
Wie kommt man gegen den Mythos an?
Ich weiß nicht so recht. Wahrscheinlich kann man nur dagegen anschreiben, sich selbst an der Nase nehmen und seine eigene Sprachverwendung reflektieren. Spreche ich von Daten, Informationen oder von Wissen. Was vermittle ich eigentlich in Unterricht und Lehre? Wenn das von mir Gesagte unterschiedlich kontextualisiert wird… Und dann ist da ja auch noch die Sache mit den verschiedenen Ohren oder den Ebenen einer Kommunikation – Schulz von Thun, Sie können sich sicherlich erinnern… Aber das ist eine andere Geschichte.
Quelle
[1] De Bruyckere, Pedro; Kirschner, Paul A. & Hulshof, Casper D. (2015). „Myths about Learning. Myth 5: Knowledge Is as Perishable as Fresh Fish“, in: dies. (Hg.), Urban Myths about Learning and Education. Amsterdam et al.: Elsevier: 44-47.