Raumkonzept neu <-> Fehlerkultur neu

Dieser Blogbeitrag versteht sich als Beitrag zur Beitragsparade der Bildungspunks, die im Juni das Thema Neue Raumkonzepte für Klassenzimmer trug. Da die Beitragsparaden ja keine zeitliche Beschränkung haben, es nur einen Start- aber keinen Endpunkt gibt, möchte ich zu diesem Thema auch noch etwas nachreichen. Ich habe mir Zeit gelassen, weil manche Ideen einfach reifen müssen.

Ich möchte mich aber nicht mit dem konkreten Klassenzimmer beschäftigen, sondern Raum ein wenig weiter sehen. Es geht mir um den abstrakten Raum „Fehlerkultur“ im konkreten Raum „Klassenzimmer“.

Quelle: Pixabay

In den letzten Wochen und Monaten habe ich einen Umstand bemerkt oder bin mir einer Sache bewusst geworden, die mich irgendwie schockiert hat. Im Gespräch mit Studierenden, egal ob es „meine eigenen“ waren oder Studierende, die ich in meinem persönlichen Umfeld um mich habe, habe ich einige Dinge festgestellt, die ich jetzt, vielleicht ein wenig überspitzt, zusammenfassen möchte:

  1. Bulimie-Lernen scheint in Mode zu sein.
  2. Kreativität und eigene kritische Meinung scheinen aus der Mode zu sein.
  3. Praxisbezug scheint nebensächlich.
  4. Training-to-the-Test scheint hauptsächlich.
  5. Fehler sind grundsätzlich etwas Schlechtes.

Bulimie-Lernen scheint in Mode zu sein.

Vielleicht kommt es nur mir in letzter Zeit so vor, aber diese fünf Feststellungen begleiten mich jetzt doch schon einige Zeit. Die Studierenden gehen gerne den Weg des geringsten Widerstands, wenn es um Parallelgruppen geht. Man informiert sich über die Anforderungen. Man informiert sich vorab über die Lehrpersonen und nimmt die harmlosesten. Beim Lernen wird spekuliert, einzelne Kapitel werden ausgelassen, man riskiert. Ein Genügend genügt, die Mindeststudienzeit, der Zwang nach ausreichenden Punkten im ECTS und/oder Semesterwochenstunden treibt zu einem neuen zielgerichteten Studierenden. Zeit ist nicht nur Geld, sie regelt auch das Studium, die Studienbeihilfe, die Lebensplanung. Das ist nicht ganz neu, das gab es schon zu meiner Zeit, wenngleich nicht ganz so ausgeprägt. Ich komme eben aus der Vor-Bologna-Zeit, der Zeit der Bummelstudierenden. Irgendwie halt.

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Kreativität und eigene kritische Meinung scheinen aus der Mode zu sein.

Dennoch kommt mir vor, dass es zurzeit verstärkt so ist, dass die Lerner*innen auf den Test, die Klausur hinlernen, dabei aber nur das Kurzzeitgedächtnis füllen, bei der Prüfung alles aus sich herausschreiben und dann alles vergessen. Das hat nichts mit digitaler Demenz zu tun, sondern mit der Art, wie Prüfungen gestaltet sind. Wieso sollte ich mir eine eigene Meinung bilden, wenn es ausreicht, dass ich bei den richtigen Antworten ein Häkchen setze? Wieso sollte ich den Stoff hinterfragen, wenn es nicht gewürdigt wird? Das ist wie in der Schule, wo Hausübungen gegeben werden, die aber nicht kontrolliert werden, oder mit Feedback versehen werden. Wenn es keine Wertschätzung gibt, keine Kontrolle, keine Antwort, stellt man sich die Frage, wieso man es überhaupt macht. Das ist kein „Schüler*innen-Leiden“, sondern eine Gewohnheit der Menschen. Denken wir mal dran, wie gerne wir eine Arbeit machen, auf die wir keine Reaktion bekommen….

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Und auch kreative Wege sind oftmals eher unerwünscht. Provokativ sage ich: Ja, denn kreative wie auch eigene kritische Lösungen lassen sich viel schwerer korrigieren und evaluieren. Vielleicht gibt es andere Hintergründe. Wenn man aber hört, dass man einen Freitext (Essay) zugunsten eines Multiple Choice-Quiz aufgibt, weil das Korrigieren so aufwendig ist, dann sollte das zu denken geben.

Praxisbezug scheint nebensächlich.

Dazu kommt, dass im Unterricht Werkzeuge eingesetzt werden, die in der Praxis kaum Anwendung finden. Man folgt einzelnen Anbietern, die man abonniert hat, man behält Schulbücher bei, die veraltet sind, nur weil man die Begleitmaterialien hat. Man lässt Übungen ausführen, die man seit gefühlten 100 Jahren so gemacht hat. Eigene Wege, ob bei technisch-mathematischen Konstruktionen oder den ersten Unterrichtsversuchen, werden nicht goutiert. Ist das der richtige Weg? Wenn Studierende am Ende des Bachelors Angst davor haben, eine Unterrichtseinheit zu gestalten, weil sie Angst haben, etwas falsch zu machen? Wenn Sie vor einer Präsentation im Kreise ihrer Kolleg*innen Angst haben, weil sie Fehler machen könnten? Sind wir dann am richtigen Weg?

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Training-to-the-Test scheint hauptsächlich.

In vielen Studiengängen, aber auch in Hinblick auf die Zentralmatura, werden Formate trainiert. Training to the test ist das neue Schlagwort. Doch wo bringt es uns hin? Die Lerner*innen und Studierenden schließen ab, sind in einem Format besonders gut, aber wenn es darum geht, auf Ausnahmen zu reagieren, werden sie panisch, denn Flexibilität haben sie verlernt. Der eigene Weg wurde ihnen abtrainiert. Die Formate stehen im Vordergrund. Vielfach konsumieren sie den Inhalt und spucken ihn unverdaut und vor allem unreflektiert wieder aus. Bulimie-Lernen und Training-to-the-Test sind in Kombination wirklich nicht anzustreben.

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Fehler sind grundsätzlich etwas Schlechtes.

All diese Punkte münden in etwas, das ich eine falsche Fehlerkultur nenne. Wenn Lernende schon Profis wären, dann müssten sie nicht lernen. Sie sind aber zum Lernen da. Und wir als Lehrperson bringen nichts bei, sondern zeigen Wege und Möglichkeiten auf. Wir geben Feedback, melden rück, helfen aus. Fehler sind dabei Zeichen für eine Entwicklung oder auch für einen Stillstand. Niemand von uns ist perfekt. Ich bin als Sprachlehrerin weder in der Fremdsprache, noch in meiner Muttersprache perfekt. Wieso sollten meine Schüler*innen perfekte Sätze sprechen, wenn ich in der Muttersprache auch Fehler mache? Geht es nicht darum, Kommunikationsstrategien zu haben, diese zu erlernen, auszuprägen?

Ein neuer Lernraum.

Das ist ein Lernraum, den ich mir wünsche. Die Schüler*innen und Lernenden lernen in einem geschützten Raum, dürfen experimentieren, dürfen üben und vor allem Fehler machen. Dabei bekommen sie Feedback, Hilfestellungen, profitieren von meiner Erfahrung (als Lehrperson und den Erfahrungen von Expert*innen, Kolleg*innen. Und sie lernen mit unterschiedlichem Input umzugehen, diesen zu bewerten, zu analysieren, zu verarbeiten und vielleicht zu verinnerlichen. Sie bleiben dabei kritisch, auch den Lehrenden gegenüber, die ihren Status als Wissensvermittelnde aufgeben müssen/sollten/dürfen. Es geht doch darum, Dinge zu erleben, auszuprobieren und nicht nur theoretisch wiederzugeben. Zumindest in den Sprachen, aber auch in der Ausbildung zum Lehrer und zur Lehrerin. Die Grenzen des Lernraumes stecken wir uns dabei nur selbst. Wir lernen immer, überall. Aus jeder Begegnung. Aus jedem Gespräch. Wir lernen informell. Wir lernen in unterschiedlichen Lernräumen. Alleine und mit anderen. Das macht unser Lernen aus. Das macht uns aus. Wir machen Fehler. Wir sollten aus ihnen lernen können und keine Angst vor ihnen haben müssen.

(M)ein Fazit.

Lernen ist ein Prozess. Lernen ist dynamisch. Es zählt nicht nur das Endprodukt, sondern auch der Weg, der uns zum Produkt führt. Ich denke, das haben wir irgendwie (und aus welchen Gründen auch immer) aus den Augen verloren. Wir brauchen eine neue Fehlerkultur, in der Wertschätzung für Flexibilität, Kreativität und eigene Wege zählen. Was bewerten wir eigentlich – die Performanz oder die Kompetenz? Wenn wir Kompetenzen bewerten, wie bewerten wir sie? Wie kann man in der Beurteilung von Kreativität und kritischer Herangehensweise objektiv bleiben? Sind wir jemals objektiv?