Mythenkalender #8: In der Schule wird die Kreativität zerstört.

Kinder sind grundsätzlich kreative Wesen, deren Kreativität mit dem Eintritt in die Schule kontinuierlich zerstört wird. Der Schluss ist klar: Schule zerstört Kreativität. Mythos oder nicht?

Kinder sind natürlich kreativ.

Wenn man an Schule oder allgemeiner Schulbildung und Kreativität denkt, dann hat man, geprägt durch die eigene Erfahrung, sicherlich unterschiedliche Zugänge zum Thema. Wenn man in eine Schule mit Kreativitätsschwerpunkt, musischem oder sprachlichem Schwerpunkt gegangen ist, versteht man die Aussage, Schule zerstöre Kreativität vielleicht weniger als wenn man eine mathematisch-technische Schwerpunktschule besucht hat. Klingt einleuchtend? Kinder sind so viel kreativer und offener, solange sie sich nicht in der Schule befinden. Sie zeichnen und malen, sie basteln tollkühne Dinge aus unterschiedlichsten Materialien, sie erfinden Geschichten und versetzen sich kurzerhand in Fantasiewelten. Wenn sie scheitern, dann probieren sie auf eine andere Art und Weise, ans Ziel zu gelangen und wenden dabei interessante Lösungswege an. Kinder sind kreativ. Sie sind von der Gesellschaft noch nicht korrumpiert, wie bereits Jean-Jacques Rousseau in Émile ou De l’Éducation (1762) beschreibt.

Schule und Kreativität?

In der Schule jedoch herrschen Standardisierung und Reglementierung vor. Die Stunden sind in einen klaren Rhythmus gesetzt, an den sich die Kinder gedanklich halten müssen. Sie müssen den vorgegebenen Strukturen folgen. Nehmen wir die standardisierte Reifeprüfung in Österreich: Hier werden gerade in den Fremdsprachen vor allem Formate trainiert, die Sprache wird dabei vielfach nicht mehr wirklich (oder richtig) gelernt. Multiple-Choice-Tests tun ihr Übriges dazu und das freie Schreiben (unter Anwendung kreativer Zugänge) wird beinahe nicht mehr praktiziert. Hattie nennt in seiner Meta-Meta-Studie zwar Kreativität als Einflussgrößen, Creativity Programs (Effektstärke 0.62), Relating Creativity to Achievement (Effektstärke 0.4) und Teaching Creative Thinking (Effektstärke 0.34), die Effektstärken sind jedoch nicht überragend hoch.

Changing Education Paradigms

De Bruyckere et al. (2015) [1] nehmen als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen zum Mythos School kills Creativity das Video Changing Education Paradigms von Sir Ken Robinson.

Quelle: TED Talk

In diesem bekannten TED Talk beschreibt Robinson die Fehlleistungen der Schule und nimmt als ein Beispiel Kreativität heran. Sie kennen Vielleicht den Alternative Uses Task oder Alternative Uses Test? Es geht dabei darum, an so viele verschiedene Verwendungs- oder Einsatzmöglichkeiten eines Alltagsgegenstandes zu denken wie möglich.

Quelle: Pixabay

Robinson fragt nach, wie viele Verwendungen wir für eine Büroklammer kennen. Er kommt zum Schluss, dass einem/einer Genius – hier soll der englische Originalausdruck bleiben – ca. 200 Verwendungsmöglichkeiten einfallen, einem durchschnittlichen Erwachsenen 10-15. Kindern unter sechs Jahren fallen ebenfalls ca. 200 Verwendungen – sie sind also genius und werden durch die Schule korrumpiert, „become less divergent thinkers“ (De Bruyckere et al., 2015: 77), da sie in ein System gedrängt werden, das zahlreiche Schwächen hat (auf die hier nicht näher eingegangen wird, das Video ist aber ohnehin im Original verlinkt).

Sie nicken?

Klingt doch alles sehr plausibel. Ist es nun aber wirklich so? Zerstört die Schule die Kreativität? Nun, De Bruyckere et al. (2015) sehen die Sache differenziert und konkludieren, die Schule zerstöre die Kreativität nicht, sie fördere sie aber gleichzeitig auch nicht. Eine vorsichtige Formulierung, aber stimmig.

Schwächen der Argumentation

Nun, schauen wir die Argumentationslinien einmal genauer an. Sir Ken Robinson trennt in seiner Argumentation divergent thinking und creativity nicht klar voreinander ab. Hier der Ausschnitt aus dem TED Talk kompakt:

Quelle: YouTube

Die von ihm benutzte Studie trennt, so zeigen De Bruyckere et al. (2015), nicht zwischen creativity und genius. Die Autoren zitieren Gegenstudien, die zeigen dass die Korrelation zwischen der Intelligenz, gemessen im Intelligenzquotient, und Kreativität sehr gering ist. Gleichzeitig zitieren sie auch das Gegenbeispiel einer Studie, in der beschrieben wird, dass die Schule sehr wohl Kreativität fördere. Sie nennen abschließend ein Beispiel, das zeigen soll, dass nicht alles, was als kreativ bezeichnet wird auch kreativ ist. Konkret nennen sie die Methode Brainstorming, der nachgesagt wird, kreatives Potential zu haben. Studien beweisen das Gegenteil. Was von den Autoren nur implizit genannt wird, ist der Umstand, dass sie sich hier auf das Arbeiten in einem Team beziehen. Sie resümieren, dass das Zusammenarbeiten dann am besten funktioniert, wenn die Co-Workers räumlich nahe sind, was gerade im virtuellen Raum auch nachdenklich macht.

Allgemein bleibt den Autoren vorzuwerfen, dass sie ihre Argumentation auf das Werk eines Autors stützen, die wissenschaftliche Breite hier also nicht gegeben ist. Was, wenn der genannte Autor anekdotisch arbeitet?

Ist das Thema wirklich aktuell?

Ja, denn mit den 4C’s ist Creativity gerade in aller Munde – dazu aber später mehr im Mythenkalender (#spoiler), weshalb die Twitter-Hashtag-Suche in diesem Beitrag nicht gemacht wird. Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, dass die Suchbegriffe vor allem im Kontext der 4C’s oder 4K auftreten.

Gerade zum divergent thinking gibt es – gefühlt, nicht empirisch erhoben – zahlreiche Videos, unterschiedlicher Stakeholder (und unterschiedlicher Qualität:

Quelle: YouTube
Quelle: YouTube

Auch gibt es dazu einige Beiträge aus Magazinen, Zeitungen oder Blogs, bei denen vielfach aber zu überprüfen ist, wer sich dahinter versteckt, da sie zum Teil sehr polarisierend (und kommerzialisierend) sind. Vier Beispiele, die lesenswert sind und stellvertretend ausgewählt wurden, stammen von der PH Vorarlberg, der Universität Würzburg und dem Magazin Schule bzw. der Plattform Schule.at. Außerdem sei für Österreich auf den Grundsatzerlass des Bundesministeriums zur ganzheitlich-kreativen Lernkultur verwiesen.

Wie kommt man gegen den Mythos an?

Kennen Sie Möglichkeiten, Kreativität zu testen? Also analog zum Intelligenzquotient? Es gibt hier sicherlich Testungen, aber man sollte vielleicht divergent thinking und creativity separat voneinander betrachten. Als Lektürehinweis hierzu die Masterarbeit von Brigitte Palmstorfer an der Donau-Universität Krems, die unterschiedliche Tests zur Messung von Kreativität beschreibt.

De Bruyckere et al. (2015) verneinen den Mythos – die Schule zerstöre die Kreativität nicht, sie fördere sie aber auch nicht. Hier liegt die Chance, gegen den Mythos anzukommen: Es liegt an den im Bildungssystem Tätigen, und damit sind nicht nur die Lehrer*innen gemeint, kreative Oasen zu schaffen, in denen selbst und neu gedacht werden darf. Ob man dies divergent thinking nennt, ob man out of the box denkt, oder ob man outside the box denkt, das sind unterschiedliche Zugänge (und man sollte sich davor die Box anschauen). Aber wie so oft im Leben ist der Perspektivenwechsel ein wichtiger und man sollte – wie auch bei der Walt-Disney-Methode – diese unterschiedlichen Perspektiven einnehmen, um unterschiedliche Wege sehen. Das wäre ein Anfang.

Quelle

[1] De Bruyckere, Pedro; Kirschner, Paul A. & Hulshof, Casper D. (2015). „Myths about Learning. Myth 11: School Kills Creativity“, in: dies. (Hg.), Urban Myths about Learning and Education. Amsterdam et al.: Elsevier: 77-81.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert