Koordinationsstelle Lesen (KsL): Lesen in digitalen Kontexten (Nachlese)

Ich durfte am Symposium der KsL am 18. Juni 2021 einen kurzen Workshop zum Thema Lesen im virtuellen Raum: digital, dekodierend, dynamisch halten. Hier meine Nachlese.

Die Koordinationsstelle Lesen (KsL) erstellt nicht nur einen Kompetenzraster für das Lesen (LesenKompP), sondern veranstaltet jedes Jahr ein Symposium rund um das Thema Lesen. 2021 ging es um Lesen in digitalen Kontexten. Eine Nachlese der Veranstaltung inklusive der aufgezeichneten Keynotes zeigt die breite Aufstellung des Symposiums.

Bereits in der Keynote sprach Matthis Kepser von der Universität Bremen die Besonderheiten des digitalen Lesens an. Klassische Texte sind dreidimensional, digitale Texte sind zweidimensional (Screenlesen). Digitale Textes zeichnen sich durch eine hypertextuelle Textorganisation aus, analoge Texte durch eine lineare Struktur.  Zweitere sind beschränkt auf Text und Bild, digitale Texte hingegen erweiterbar um Audio, Video, interaktive Teile. Und während bei analogen Texten strukturell  eine relativ hohe Kontrolle über den Inhalt besteht, gibt es im digitalen Bereich strukturell relativ geringe Kontrolle.

Quelle: Pixabay

Dabei betonte er auch die Ergebnisse der Stavanger Erklärung zur Zukunft des Lesens im Zeitalter der Digitalisierung. Diese bezieht sich auf das Lesen am Screen wissenschaftlicher Sachtexte, nicht jedoch auf literarische Texte. Problematisch erscheint dabei auch, dass ein Lehrbuchtext (klassisch, ausdruckt) mit einem PDF verglichen wird, bei dem die Stärken von digitalen Texten nicht berücksichtigt werden. Auch die PISA-Leseüberprüfung als multiples Lesearrangement wurde als sehr künstlich konstruiert kritisiert.

Lesen will gelernt sein

Kinder und Jugendliche lesen nach wie vor, das zeigt die JIM-Studie (aktuelle Ausgabe 2020), dabei verlieren analoge Angebote an Bedeutung, wenngleich das Lesen von Büchern immer noch eher analog passiert. Während Bücher noch als Bücher gelesen werden, werden Zeitschriften und Tageszeitungen oftmals eher analog gelesen und hier auch oft eher als Feed in den unterschiedlichen Social-Media-Kanälen. So kommt auch Andreas Schleicher zum Schluss, dass Lesen gelernt werden muss. Das Lesen im virtuellen Raum ist ein anderes als das Lesen im analogen Raum. Lesen soll auch Freude machen. Dennoch ist es eine aktive Leistung, Meinungen und Fakten voneinander zu unterscheiden, ebenso wie Werbung von journalistischen Texten.

Lesen ist nicht gleich Lesen

Ohne werten zu wollen, gibt es sowohl kursorisches Orientierungslesen als auch Deep Reading (tiefes Lesen) als Lesetechniken. Beide Lesarten haben ihre Berechtigung. Man liest auch sehr selektiv – Prioritäten werden gesetzt. Die Ablenkung beim digitalen Lesen ist immer vorhanden – hier ein  Hyperlink, da ein Video. Schnell verliert man das eigentliche Leseziel aus den Augen. Man verliert sich, ist Lost in Hyperspace. Und schon seit dem 18. oder 19. Jahrhundert wird zwischen den Anhänger*innen des intensiven und des extensiven Lesens (heftig) diskutiert.

Lesen im virtuellen Raum: digital, dekodierend, dynamisch

Ohne die Keynote gekannt zu haben, knüpfte mein Workshop direkt an die Worte Kespers an.

Gleich zu Beginn stellte sich die Frage, was denn Lesen eigentlich bedeutet? Was konnotieren Sie, wenn Sie das Wort „Lesen“ hören? Die Tageszeitung? Literarische Werke, mit denen Sie in der Schule gequält wurden? Die Timeline auf Social Media?

Lesen ist schwierig, denn die Sprache ist oftmals eine andere als jene, die wir sprechen. Literarizität ist eine Hürde. Gerade in fiktionalen Texten kann die ästhetische Struktur eine Stolperfalle sein. Vielleicht werden deshalb weniger fiktionale Texte gelesen, obwohl wir eigentlich ständig lesen (am Smartphone, auf der Werbetafel, im Straßenverkehr…).  In der Schule neigen wir auch oftmals dazu, Texte zu zerlegen und sie den Lesenden damit zu verleiden. Literatur wird in die Ferne gerückt. Was wird in der Schule als „Literatur“ behandelt? Klassische Literatur. Wenngleich der Wert der Klassiker*innen wichtig und allgemein und zeitlos gültig ist, so brauchen wir beim Lesen ein breites Vorwissen oder eine Vorerfahrung. Fiktionalität ist als solche zu erkennen und von Fakten zu unterscheiden. In die Protagonist*innen fühlt man sich hinein, empfindet Empathie. Das trifft aber nicht nur auf die traditionelle, klassische Literatur zu.

Literalität

Lesen ist viel mehr als die basale Grundkompetenz (neben Schreiben und Rechnen), die sie einmal war und als die sie in unseren Köpfen herumschwirrt. Weil Literatur vielfach eher monomedial gesehen wird. Literatur ist in einem weiten Wortsinn zu verstehen. Serien, Spielfilme, Raps, Chansons, Werbung – alles ist in einem weitesten Sinne Literatur. Und hier können Anknüpfungspunkte sowohl zur Kultur der Jugendlichen als auch älterer Generationen gefunden werden.

Social Reading

Eine Möglichkeit, das Digitale in seinen Möglichkeiten auszunutzen, ist die Methode des Social Readings (der moderne Buch Club). Man liest gemeinsam einen Text und sammelt Kommentare zum Text (hier einige praktische Beispiele). Diese können Hintergrundinformationen umfassen oder auch Erklärungen, inhaltliche Deutungen. Die Leser*innen greifen auf ihr jeweiliges Vorwissen zurück und teilen es mit der Gruppe. So entsteht ein Gerüst um den Text („Scaffolding“) und für jede*n einzeln*e fällt vielleicht weniger Arbeit in der Recherche an, vielleicht ergeben sich aber auch neue Perspektiven. Eine Nähe zu den 4C lässt sich erkennen. Damit die Recherche leichter fällt und man sich von den Ergebnissen nicht erschlagen fühlt, kann die Methode des Webquests als Scaffolding-Methode helfen. So lässt sich das Gefühl des Lost in Hyperspace verhindern.

Lesen ist ein aktiver Prozess

Auch wenn wir vermeintlich zur Unterhaltung lesen, passiert in unserem Kopf sehr viel. Wir greifen auf Vorerfahrungen zurück, Erinnerungen werden aktiviert (man erinnere sich an Prousts Madeleine), verschiedene Botschaften zusammengesetzt. Im Vortrag habe ich als Beispiel zwei Memes gewählt. Memes sind ein spannendes Phänomen, auf das ich in einem weiteren Blogpost noch eingehen werde. Spannend sind Memes deshalb, weil sie mehrere Deutungs- und folglich Verstehensebenen haben: Wir dekodieren das Bild – setzten es beispielsweise in einen intertextuellen oder intermedialen Kontext. Wir dekodieren den Text. Beides kann separat „gelesen“ werden. Die Botschaft eines Memes ergibt sich aber nicht aus den einzelnen Ebenen, sondern dem Zusammenspiel der beiden Ebenen, quasi symmedial. Wir können Memes einfach nur so anschauen, wir können sie aber auch deuten, wenn wir Vorwissen besitzen, auf das wir zurückgreifen können. Gerade in letzterem Fall ergibt sich der volle Wert des Memes (der volle Humor, die volle Botschaft, die volle Kritik).

Lesen ist dynamisch

Klassische, fiktionale Literatur kann aber auch modern erscheinen. Ein Rap ist Poesie, ein Poetry Slam hat die Poesie im Titel. Als Beispiel Julia Engelmanns Slam Eines Tages aus dem Jahr 2013:

Man kann das Video ansehen, man kann den Text lesen. Beides hat eine spezifische Emotion, die ausgelöst wird. Beide Versionen haben ihren Wert. Beide sind Literatur. Eine ist monomedial, eine ist multimedial. Beide brauchen Kompetenzen beim Rezipieren und Dekodieren. Beide haben vielleicht Ablenkungspotential. Es ist vielleicht nur eine Frage der Gewöhnung. Wir müssen lernen, mit digitalen und analogen und mono- und multimedialen Texten umzugehen. Es ist kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-Als-Auch.

Lesen ist aber auch deshalb dynamisch, weil neue Textsorten oder Publikationsformen angezogen werden. Fake News zu erkennen ist nicht einfach, auf Clickbaiting sind wir alle wahrscheinlich schon mal hineingefallen (hier die Phasen des Clickbaits, wie sie im Gehirn ablaufen) . Journalist*innen wollen Aufmerksamkeit binden. Wir lesen sehr selektiv. Um unsere Aufmerksamkeit wird gebuhlt. Auch Satirezeitungen, wie Der Postillon leben von der Aufmerksamkeit. Hier ein aktuelles Beispiel – die Satire erkennt, wer das Spiel Frankreich gegen Deutschland auch gesehen hat. Diese aufmerksamkeitslenkenden Phänomene sind zu erkennen und richtig einzuordnen, dazu habe ich schon mehrfach gebloggt:

Was bedeutet das alles?

Beim Lesen oder Dekodieren von Texten brauchen wir nehmen der klassischen Literalität auch eine Medienkompetenz. Dieter Baacke hat bereits vor einigen Jahrzehnten Medienkompetenz als pädagogisches Konzept formuliert und präsentiert. Es ist noch immer aktuell. Im digitalen Raum ist die digital literacy wichtig, bei Bildern die visual literacy (hier beispielsweise die Kontroverse zweier Jurist*innen um die urheberrechtliche Problematik um Memes – Position 1, Position 2). Wir brauchen eine Multiliteralität – eine Multiliteracy. Wir können Texte nur wahrnehmen, oder wir nehmen sie in der Tiefe wahr: Orientierungslesen oder Deep Reading als Konzepte sind genannt. Wolfgang Hallet hat fünf kulturwissenschaftlich motivierte Lesarten von Texten formuliert (ästhetisch, sozial, generisch, kulturell, interkulturell), in der Bibelexegese werden vier Schriftsinne unterschieden (literal, allegorisch, moralisch, anagogisch). Der Zweck des Lesens entscheidet über die Tiefe und die Einbeziehung verschiedener Dekodierebenen. Beim Lesen greifen wir aber immer auf Vorwissen zurück: auf unsere eigenen Erfahrungen, bereits gelesene Bücher, angesehene Filme, Gehörtes… Wir sind kognitiv immer beschäftigt.

Sind die Texte multmedial oder multimodal, können wir durch die dargebotenen Reize nicht nur gefordert, sondern auch überfordert werden. Mayer hat hierzu in seiner Cognitive Theory of Multimedia Learning, die an die Erkenntnisse der Cognitive Load Theory anschließt, Bezug genommen. Scaffolding ist, um in die Tiefe gehen zu können, notwendig, wenn völlig Unbekanntes gelesen oder dekodiert werden soll. Dies trifft auch das sinnerfassende Lesen, bei dem viele Hürden auftauchen können: unbekannte Wörter (semantisch), unbekannte Konzepte (pragmatisch) oder Strukturen (morphologisch, syntaktisch), fehlendes Weltwissen oder spezifisches kulturelles Wissen. Dazu kommen eben Ablenkungen und Konzentrationsschwierigkeiten oder auch Lesestrategien (Querlesen, kursorisches, tiefes Lesen).

Die Lust am Lesen

Beachten wir die von Decke-Cornill und Gebhard (2007) formulierte Acht-Punkte-Liste literarischer Kompetenzen, dann sehen wir, warum literarische Texte oftmals so unzugänglich sind. Es fehlt vielleicht am Zugang zum Werk (fehlende Bezugskompetenz) oder die Identifikation mit den Protagonist*innen (Empathiefähigkeit). Faktuales und fiktionales lassen sich nicht immer klar trennen (man denke hier an 1984 oder auch stilisierende, autobiographische Werke). Und weil das Dekodieren von Texten – also das Lesen in einem weiten Wortsinn – auch anstrengend sein kann, fehlt vielfach die Lust am Lesen. Vielleicht auch weil der Zugang zur Literatur eher klassisch-methodisch ist (einige Ideen zur Literaturarbeit bei Klaus Maiwald). Und ich denke, das ist gerade der Knackpunkt und auch die große Herausforderung: Die Lust am Lesen zu fördern (oder aber zu wecken, aufrecht zu erhalten). Ein Anspruch, den die Schule nur teilweise erfüllen kann, denn Lesesozialisation sollte bereits sehr früh beginnen.

Quelle: Pixabay

Der Wert des Vorlesens (auch digital möglich) wird immer wieder betont und auch das gemeinsame Lesen von Bilderbüchern oder Büchern. Und vielleicht auch das Darübersprechen. Wenn Erwachsene beim Lesen aber schon die Augen überdrehen, welche Vorbildwirkung nehmen sie dann ein? Wir geben unsere Leseerfahrungen weiter (implizit oder explizit) anstatt den jungen Lesenden eine neutrale Leseerfahrung zu ermöglichen.

Mein privates Beispiel

Ich habe immer gerne gelesen und auch sehr früh sehr viel gelesen. Die Spitznamen, die ich damals hatte, waren vielfältig und nicht immer schön. Meinen Eltern war Literatur nicht sehr nahe, sie haben mich beim Lesen nicht beeinflusst, aber mich mit Büchern versorgt. Ich hatte Glück, damals war die Knickerbocker Bande sehr aktuell und ich verschlang die Bücher regelrecht. In der Schule hatte ich ebenfalls Glück. Ich durfte früh das lesen, was ich wollte. Meine Lehrer*innen waren hier sehr offen. So las ich meinen ersten Molière mit 15 (auf Französisch, mit viel Hilfe), verschlang Charles Bukowskis (nicht-jugendfreie) Werke mit 16. Mein Deutschlehrer diskutierte  – obwohl er (so glaube ich) Bukowski wenig abgewinnen konnte- immer offen und stellte eher Fragen, die zur Reflexion anregten als die gelesenen Werke zu verurteilen oder zu sehr zu loben. Die Räuber haben wir in einer aktuellen Version aus dem 20. Jahrhundert angesehen. Noch immer eines meiner liebsten deutschen Werke, das auch meine Dissertation „verursacht“ hat.

Habe ich damals alles verstanden? Nein. Aber es ging im Unterricht um große Linien. Das erlaubt mir aber, einzelne Werke immer wieder zu lesen. Unter verschiedenen Lesarten.  Und jedes Mal entdecke ich Neues, aktiviere neues Vorwissen und andere Vorerfahrungen, lese in anderen Stimmungen. Das ist möglich, weil Texte nicht akribisch zerlegt, sondern kritisch besprochen wurden. Zumindest ist das meine Erinnerung. Zumindest ist das meine Leselust.

Und weil ich über Vorwissen schreibe – wer die vorletzte Überschrift gelesen hat, hat vielleicht auch an dieses Lied gedacht. Meine intermediale Anschlusskommunikation.