Open Educational Resources wirken irgendwie wie Coverversionen

Ein schönes Lied, man hat es im Ohr. Aber: HALT! Das kenne ich doch irgendwoher.

Sie kennen das Gefühl. Sie hören eine Melodie und sie kommt Ihnen bekannt vor. Sie kennen sie, aber irgendwie ist etwas anders. Irgendwas ist besser.  Vielleicht moderner oder melodischer, aber jedenfalls anders.

Ein paar Beispiele gefällig?

In den 1960er-Jahren sang Conny Froboess von den zwei kleinen Italienern, die Sehnsucht nach der Heimat und dem Meer und nach Tina und Marina haben. Ein schwerer Inhalt – die Welle der Arbeitermigration in den 60ern in Deutschland – verpackt in einen – gute Laune verheißenden – Schlager. 2007 wird das Stück von Roger Cicero eingesungen:

Es ist das gleiche Lied mit dem gleichen Inhalt. Der Stil ist gänzlich unterschiedlich und auch das Zusammenspiel von Bild und Text – die Multimodalität -, wenngleich beide Lieder ein Live-Mitschnitt sind.

Ein weiteres Beispiel: The Sound of Silence.

Einmal die Coverversion, gesungen von der Metal Band Disturbed. Einmal das Original von Simon and Garfunkel in deren minimalistischer aber wirkungsvoller Darbietung:

Die neue Version polarisiert. Über Geschmack lässt sich ja bekanntlich nicht streiten, aber ist es wirklich die schlechtere Coverversion aller Zeiten? Macht sie nicht eine neue Zielgruppe auf und ruft kulturelles Liedgut wieder in Erinnerung? Tut ihr der neue Touch nicht auch gut? Hat die neue Version nicht auch Wirkung, sodass man die Originalversion auch wieder gerne hört (wenn man so etwas hört)?

Reinhard Mey singt 1967 Ich wollte wie Oprheus singen:

Die Söhne Mannheims nehmen das Lied auf:

Ein letztes Beispiel noch: Summer Wine.

Das Original von Nancy (Sinatra) & Lee Hazlewood, die Coverversion von Ville Valo und Natalia Avelon. Ville Valo ist bekannt als Sänger der finnischen Rockband HIM (Join me in Death). Ebenfalls aktuell die Version von Lana Del Rey:

Die Version von Roland Kaiser (einmal mit Kim Fisher, einmal mit Mary Ross und Ireen Sheer) erspare ich. Aber auch sie gibt es.

Was hat das nun mit Open Educational Resources zu tun?

Coverversionen nehmen Bekanntes auf und verleihen ihm neues Leben oder einen neuen Stil. Sie erfinden das Rad nicht neu, sondern spielen mit vorhandenem Material. Durch die Wiederaufnahme werden auch ältere Versionen wieder ins Gedächtnis gerufen. Auch sie werden wieder sichtbar. Sie geben dem Ganzen aber ein anderes Erleben. Sie haben sich die verschiedenen Versionen vielleicht angesehen. Vielleicht haben Sie sie auch nebenbei laufen lassen und nicht hingesehen. Die einzelnen Versionen haben jeweils ihren Charme: durch die Bildgestaltung, die Videotechnik, melodisch-rhythmische Anpassungen oder einfach auch Entstauben. Jede Version hat einen gewissen Zauber und damit auch eine bestimmte Wirkung auf uns.

Open Educational Resources zeichnen sich durch fünf Eigenschaften aus, die Wiley als die 5R bezeichnet: Retain, Revise, Remix, Reuse, Redistribute. Jöran Muuß-Merholz hat die 5R übersetzt und im Deutschen die 5V etabliert: Verwahren & Vervielfältigen, Verwenden, Verarbeiten, Vermischen, Verbreiten.

Man darf derartige Materialien also für sich sichern, im Unterricht und der Lehre verwenden, aber auch verarbeiten und an sich anpassen, mehrere Materialien vermischen und diese fertigen Materialien dann auch weiterverteilen.

Quelle: Pixabay

Nun hier hinkt vielleicht ein wenig der Vergleich mit den Coverversionen. Als Normalsterbliche*r darf ich die Lieder nicht vervielfältigen, verarbeiten oder vermischen und verbreiten. Aber dennoch gibt es einen gleichen Punkt: Ich muss das Rad nicht immer neu erfinden. Es besteht bereits. Diese Materialien erlauben mir, wenn sie eine wirklich offene Lizenz tragen, sie zu bearbeiten und zu aktualisieren und auch unterschiedliche Materialien zu vermischen. Und so wie Coverversionen mache ich mit neuen und aktualisierten Materialien, denen ich meine eigene Handschrift verpasse, neue Zielgruppen auf. Dabei verweise ich immer auf den Urheber bzw. die Urheberin. Ich gebe an, was ich verändert habe – so sind Versionierungen auch sichtbar und nachvollziehbar.

Gerade in einer Zeit, die uns zeitlich und ressourcentechnisch auf mehreren Ebenen fordert, geben Open Educational Resources ein gewisses Maß an Sicherheit. Ich muss nicht alle Materialien neu gestalten. Ich muss mich nicht zu 100% auf das Schulbuch verlassen. Ich kann auch weitere Materialien, rechtsicher, in meinen Unterricht integrieren. Diese kann ich in heterogenen Klassen verwenden, um gesteigerten Übungsbedarf auszugleichen oder den individuellen Interessen der Lerner*innen entgegenzukommen. Ich kann vorhandenes Material an meine Bedürfnisse anpassen, geographische Gegebenheiten berücksichtigen, Lehrplanpunkte aufgreifen. Das Grundgerüst steht und ich befülle es neu. Und vielleicht hole ich mir auch nur zusätzliche Ideen, die ich in meinen Unterricht integriere. Die Sicherheit, vor allem die Rechtssicherheit, tut gut und beruhigt. So können Kräfte gebündelt werden.

Quelle: Pixabay

Der Aufruf

Tauschen Sie Ihre Materialien aktiv, gehen Sie auf andere zu, stellen Sie sie in Materialbörsen, wie beispielsweise bei den Bildungspunks, zur Verfügung. Die Materialien werden verwendet und in neuen Klassen ausprobiert und man bekommt auch Feedback. Und so werden auch jene Tippfehler, die man beim zehnten Mal Durchlesen nicht gefunden hat, von frischen Augen gefunden und ausgebessert. Und das finde ich sehr beruhigend. Denn Tippfehler passen.

[Notiz an alle Leser*innen: Gerne auch meine Tippfehler suchen und finden – auch wenn noch nicht Ostern ist.]

[Einschränkung: Es gibt auch ganz viele, ganz schlechte Coverversionen, die beinahe als Frevel bezeichnet werden können. Diese habe ich bewusst ignoriert, denn auch Materialien für den Unterricht können durch Überarbeitung schlechter werden. Ich bin mir dessen bewusst.]

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